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Opferschrei

Opferschrei

Titel: Opferschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lutz
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mit vierzehn gewesen war. Sie hatte inzwischen Brüste, und ihre Beine und Hüften waren jetzt mehr die einer Frau als die eines Kindes. Aber sie war noch immer dünn, zerbrechlich und verängstigt. In vielerlei Hinsicht war sie noch immer das schmalgesichtige, braunäugige Mädchen, das Quinn vergewaltigt hatte, doch war sie durch den Schwung ihres Kiefers und ihre leicht zu große, aber perfekt geschnittene Nase noch viel schöner geworden. Sie war eine schwarzhaarige, spanische Kindfrau mit einem klaren, fast adlerhaften Profil. Doch wenn man ihr in die Augen blickte, konnte man sehen, wie gehetzt sie war und dass ein Teil von ihr immer jung und voller Qual bleiben würde.
    Manchmal fragte sie sich, ob es anders wäre, wenn es Quinn nicht gegeben hätte. Hatte er tatsächlich ihre äußere wie auch innere Entwicklung verändert? Hatte er sie für immer mit einem Fluch belegt?
    Sie wandte den Blick von den Rissen in ihrer Zimmerdecke ab und schloss die Augen. Das war nicht fair! Besonders an diesem Morgen. Das ist verdammt noch mal nicht fair!
    Seit ein paar Tagen war sie nicht mehr in der Lage, ihre Gedanken zu kontrollieren. Die Träume waren wieder da, was bedeutete, dass er wieder da war – seine gekrümmte Gestalt, die sich durch das halboffene Fenster in ihre elterlichen Wohnung zwängte, in der sie jetzt nur noch mit ihrer Mutter wohnte, seit ihr Vater sie verlassen hatte. Quinn, wie sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Ein großer Mann, der im Schatten der Nacht riesig wirkte, mit einer Strumpfmaske, die sein Gesicht verdeckte und ihn unmenschlich erscheinen ließ. Sein gekrümmter Rücken war am Metallrahmen des Fensters entlanggeschrammt – der einzige Laut in dem stillen Zimmer. Das Geräusch hatte sich in Annas Gedächtnis eingebrannt, wo es sich auf der Suche nach einem Sinn und Erlösung endlos wiederholte. Sie wusste, dass es sich manchmal in ihre Musik einschlich, auch wenn sie versuchte, dagegen anzukämpfen.
    Anna, die einen Monat später vierzehn wurde, war zu verängstigt, um zu schreien. Sie war vollkommen gelähmt. Ihre trockene Kehle war wie zugeschnürt und sie konnte kaum atmen. Dort, in ihrem schweißgetränkten Bett, schienen ihre Unterhose und das viel zu große T-Shirt ihr keinen Schutz zu bieten.
    Und das konnten sie auch nicht.
    Mit manchen Details dessen, was dann folgte, konnte sie sich bis heute nicht konfrontieren. Sie waren an einem Ort begraben, an den sie nie wieder zurückkehren wollte.
    Sie erinnerte sich daran, dass die Ärmel ihres Angreifers hochgekrempelt waren, und ihr fiel eine gezackte Narbe an seinem rechten Unterarm auf. Irgendetwas sagte ihr, dass sie sich die Narbe merken musste. Merk sie dir.
    Trotz ihrer Angst und Pein spürte sie, dass er absichtlich grob zu ihr war, dass er versuchte , ihr wehzutun.
    Warum? Was hatte sie ihm getan? Sie kannte diesen Mann noch nicht einmal.
    Oder doch?
    Sie verwarf den Gedanken, sobald er ihr in den Sinn gekommen war, und konzentrierte sich darauf, woanders zu sein, jemand anderes zu sein, bis es vorbei war. Es war nicht sie, die hier gedemütigt wurde, für immer beschmutzt, auf ewig zerstört. Die Nonnen in der Schule hatten sie gewarnt, hatten alle Mädchen gewarnt.
    Huren! Eine Hure in der Bibel! Was konnte schlimmer sein?
    Du weißt, dass du sündigst. Du weißt es und es ist dir egal!
    Als er sich endlich erhob und sie gebrochen und unfähig, sich zu bewegen, in ihrem schweißgetränkten Bett zurückließ, sah sie etwas Helles im Dunkeln schimmern und erkannte, dass er ein Kondom benutzt hatte.
    Später wurde ihr klar, dass er das nicht wegen ihr getan hatte, sondern wegen sich selbst. Er hatte Angst, sich irgendeine schreckliche Krankheit von ihr einzufangen. Das machte das, was geschehen war, noch viel erniedrigender.
    »Anna!«
    Die Stimme ihrer Mutter.
    Anna war wieder eingedöst, gefangen in alten Träumen, die sie verschwunden geglaubt hatte. Nein, nicht verschwunden, aber endlich an einen Ort gebannt, von dem sie nicht entkommen konnten.
    Doch sie waren entkommen. Wie Tiger. Quinn war zurück.
    »Du hast verschlafen, Anna. Steh auf. Heute ist dein großer Tag. Auf den du seit sieben Jahren so hart hingearbeitet hast. Du darfst nicht zu spät kommen.«
    Anna rollte sich auf die Seite, dann setzte sie sich vorsichtig am Rand des Bettes auf, als ob der alte Schmerz mit der alten Scham zurückgekehrt wäre. Sie war wieder dreizehn. Unglückliche dreizehn.
    Das war das Problem – Quinn hatte wieder die Kontrolle

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