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Opferschrei

Opferschrei

Titel: Opferschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lutz
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hatte Bekanntschaft mit Kinderschändern gemacht, mit Norbert Black und mit anderen, die ihn bezahlt hatten. Wilde war nicht wie sie. Aber natürlich wusste Luther auch, dass Menschen viele verschiedene Seiten hatten.
    Er beschloss, sich keine Sorgen wegen Tom Wilde zu machen, aber wenn ihm irgendetwas suspekt oder unangenehm sein sollte, würde er es Cara sagen.
    Cara war nicht nur seine Geliebt, sondern auch seine Freundin.
    Tom Wilde war sich bewusst, dass Luther die Gerüchte über ihn gehört haben musste, doch Luther verlor nie ein Wort darüber. Das war aber nicht weiter verwunderlich. Wenn man Luther besser kannte, wurde schnell klar, dass er welterfahrener war, als er anfangs schien. Wilde hatte versucht, mehr über seinen Hintergrund herauszufinden, und vermutete sogar, dass er in Kansas City auf den Straßenstrich gegangen war.
    Vielleicht war es gerade wegen der Tage und Nächte auf der Straße, dass Luther sich nicht besonders für Wildes Vergangenheit interessierte. Luther hatte eine gute Statur und war kräftig, und Wilde vermutete, dass Luther dank seiner jugendlichen Vorstellung von Unsterblichkeit keine Angst vor ihm haben würde, was immer er auch hörte.
    Doch wie auch immer, so wie jetzt würde es nicht ewig bleiben. Am Ende des Sommers würde Luther zur Schule gehen und nur noch stundenweise arbeiten können, wenn überhaupt.
    Der Sommer lief sehr gut. Wilde hatte viele Aufträge, und Luther arbeitete hart und war ein geschickter und sorgfältiger Maler. Er befand sich auf dem besten Weg, ein Handwerker zu werden. Und er war ein außergewöhnlich begabter Schüler. Er lernte schnell, was immer Wilde ihm auch zeigte. Inzwischen hatte er einen Punkt erreicht, an dem Wilde ihm sogar Arbeiten zutraute, die echte Kunstfertigkeit verlangten. Luther hatte Talent. Wilde konnte es beurteilen, weil er früher Kunst unterrichtet hatte. Ab und zu hatte einer seiner Schüler ein verborgenes Talent gezeigt, das Wilde versucht hatte, freizulegen und weiterzuentwickeln. Normalerweise hatte er damit wenig Erfolg. Der begabte Schüler ignorierte oder missbrauchte sein Talent und torkelte hinein in ein Leben, das geprägt war von Banalitäten und, bestenfalls, durchschnittlichen Leistungen. Es machte Wilde ganz krank, wenn er zusehen musste, wie es passierte. Diese Verschwendung. Diese verdammte Verschwendung! Eine Stadt wie Hiram konnte einen Künstler ersticken, und für Wilde war es eine Qual, wenn er miterleben musste, wie die Kunst starb.
    Vielleicht war es diese Nähe und Fürsorge gegenüber seinen talentierteren Schülern, die dafür gesorgt hatten, dass die Gerüchte damals entstanden waren.
    Vielleicht war es aber auch etwas anderes gewesen.
    Wilde hatte die Gerüchte schon sehr früh gehört. Am Anfang ärgerten sie ihn. Dann belustigten sie ihn. Weil er wusste, dass sie nicht stimmten. Er war sich sicher, dass die Gerüchteküche bald aufhören würde zu brodeln, weil da nichts war, um sie zu befeuern.
    Doch leider lag er falsch. Die Gerüchte wurden größer und größer. Sie veränderten sein Leben und entwickelten ein Eigenleben, das bis heute existierte.
    Aber sie waren immer noch falsch.
    Wilde war nicht an Jungs interessiert, sondern an Mädchen. Einem Mädchen. Was es schwieriger machte, sich gegen die Gerüchte und die ständigen Anspielungen zu wehren.
    Wilde erinnerte sich daran, wie es gewesen war, die verstohlenen Blicke, der Knoten in seinem Bauch, die schlaflosen Nächte. Die schwere Last auf seinen Schultern hatte ihn unter sich zerrieben wie ein Mühlstein.
    Am Ende hatten der Kleinstadt-Tratsch und die Boshaftigkeit der Leute ihn seinen Job als Lehrer gekostet.
    Es tat ihm leid um seinen Job, aber nicht um das Mädchen.
    Was das Mädchen anging, würde er alles noch einmal genauso machen.

24
    New York, 2004.
    Dr. Rita Maxwell saß in ihrem ledergepolsterten Drehstuhl und studierte die offene Akte auf ihrem Schreibtisch. Ihr Büro war so gut wie schalldicht; die Gräusche des Straßenverkehrs zehn Stockwerke weiter unten auf der Park Avenue drangen kaum durch die dicken Wände und wurden fast vollständig von den schweren Vorhängen und dem Teppichboden verschluckt.
    Der Raum war in Erdtönen gehalten, die ein monotones Braun ergeben hätten, wenn sie nicht von grünen Akzenten durchsetzt gewesen wären, wie die Kissen auf dem Sofa, der Lampenschirm aus Bleiglas, eine chinesische Vase, die grüne Schreibtischunterlage, eine Hängepflanze, die aus ihrem Topf von einem Bücherregals

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