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Opferschrei

Opferschrei

Titel: Opferschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lutz
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schien gründlich darüber nachzudenken. »Nein, nicht jeder von uns. Nicht die, die bereits verloren sind.«
    »Glauben Sie, Sie gehören zu denen, die unwiederbringlich verloren sind?«
    »So muss es wohl sein, wenn ich nicht an Erlösung interessiert bin.«
    »An was sind Sie dann interessiert? Aus welchem Grund sind Sie hier? Es muss einen Grund geben, sonst wären Sie nicht hier.«
    »Ich bin an Erleichterung interessiert. Schlichte Erleichterung. Wegen dem, was ich tun könnte, wenn ich keine Erleichterung finde.«
    »Dann stellen sich zwei Fragen: Von was brauchen Sie Erleichterung? Und was könnten Sie tun, wenn Sie keine Erleichterung finden? Ich schätze, wenn wir die erste beantworten, können wir uns um die zweite kümmern.«
    Blank sagte nichts und verzog keine Miene.
    »Sind Drogen im Spiel?«, fragte Rita. »Wenn ja, kann ich …«
    »Nicht direkt Drogen.«
    Rita wartete. Sie spürte, dass Blank kurz davor war, sich ihr zu öffnen. Sie blieb still. Zu wissen, wann man nicht sprechen sollte, war das Schwierigste, was sie in ihrer Ausbildung hatte lernen müssen. An diesem Punkt gab es nichts zu sagen; Blank musste selbst entscheiden.
    Die gedämpften Geräusche des Verkehrs weit unten auf der Straße drangen durch die doppelt verglasten Fenster und schweren Vorhänge. Entfernte Geräusche aus einer anderen Welt. Sie ließen ihr Sprechzimmer noch ruhiger und isolierter wirken.
    Wie ein Beichtstuhl.
    »Ich bin mir sicher, dass bald etwas passieren wird.«
    Rita wartete.
    »Früher oder später passiert es immer. Sie finden es heraus. Ich weiß das immer von Anfang an, doch es ändert nichts. Es ist Teil des Grunds. Sie lernen mich kennen. Und dann …«
    Rita wartete.
    »Es gibt viele Gründe, aus denen Leute beichten, Dr. Rita.«
    Rita wartete.
    »Ich war sechzehn und hatte einen Sommerjob in einem Skiort in Colorado. Eine ältere Frau, so um die dreißig, war Kellnerin in der Lodge, in der ich arbeitete. Sie war blond und sexy. Sie hieß Bridget Olson, aber sie war keine Ausländerin oder so; sie besaß keinen schwedischen Akzent. Ich glaube, sie stammte aus Iowa. Sie war geschieden und trank zu viel, und sie war immer besonders nett zu mir. Der Kerl, der die Lodge betrieb, drehte Filme, aber ich wusste nicht, was für welche. Doch Bridget wusste es. Eines Abends fragte sie mich …«
    Blank plapperte weiter. Rita so tat, als würde sie Notizen machen, während sie dem vertrauten Tonfall ihres geheimnisvollen Patienten lauschte. Es gab keinen Grund, ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Das Diktiergerät bannte alles auf Band.
    Nicht dass es eine Rolle spielte.
    Sie wusste, dass er log.
    Ich werde es herausfinden, dachte sie zuversichtlich und ließ ihn weiterreden. Sie wusste, dass er versuchte, sie aus dem Konzept zu bringen und zu schocken. Träge sah sie ihrem Stift zu, wie er sich fast von alleine bewegte und obskures Gekritzel produzierte, wie Botschaften in einer fremden Sprache. Es war, als würde sie Notizen zu Blanks früheren Worten machen, die an der Wahrheit gekratzt hatten und vielleicht prophetischer waren, als er wusste:
    Früher oder später passiert es immer. Sie finden es heraus. Ich weiß das immer von Anfang an, doch es ändert nichts. Es ist Teil des Grunds …
    Sie lernen mich kennen.
    Rita wusste, dass sie ihn früher oder später kennen lernen würde.
    Wenn David Blank – oder wie er auch immer hieß – einen Gegner suchte, den er in einem Spiel schlagen konnte, dessen Regeln er selbst erfunden hatte, dann hätte er sich besser einen anderen Therapeuten gesucht.
    Er war schlau; das hatte sie über ihn gelernt. Und er war selbstsicher.
    Was er wiederum lernen musste, war, dass es jemanden gab, der besser war als er, ganz gleich, wie schlau er auch sein mochte. Um ihn zu erreichen, um ihn zu verstehen, musste sie sein Vertrauen in die eigene Überlegenheit zerstören.
    Das war ihre Aufgabe.

30
    Die Wohnung war still und dunkel, und es war so kühl, dass die Klimaanlage aus war. Ein Fenster stand ein Spaltbreit offen, und eine leichte Brise wehte durch die abgedunkelten Räume. Das Schlafzimmer schien, genau wie die Wohnung und die Stadt um sie herum, zu schlafen oder sich zumindest in einem nicht ganz wachen Zustand zu befinden.
    Es war die Art von Ort, an dem Träume den Träumer besuchten.
    Mary Navarre wachte neben Donald auf, der friedlich weiterschlief. Sie war sich sicher, dass sie ein Geräusch in der Küche gehört hatte.
    Sie knuffte Donald in die Rippen und flüsterte

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