Opferschrei
eindringlich seinen Namen.
Er murmelte etwas und hob seinen Kopf, um sie anzusehen.
»Ich bin mir sicher, dass ich ein Geräusch in der Küche gehört habe«, sagte sie und hörte die Angst in ihrer Stimme.
»Wahrscheinlich der Kühlschrank«, antwortete er schläfrig. »Die Eiswürfelmaschine oder so.«
»Es war eher so, als würde jemand dort leise umhergehen. Ich glaube, ich habe gehört, wie die Kühlschranktür auf und zu ging.«
Er atmete tief ein, dann seufzte er und stützte sich auf seinen Ellbogen. Donald war ein großer Mann. Er hatte lange, aber fleischige Gliedmaßen und dünner werdendes blondes Haar. Er war nicht in Form und nicht besonders kräftig, aber seine Größe beruhigte sie ein wenig.
Er räusperte sich und schluckte, damit sie ihn besser verstand. »Also willst du, dass ich aufstehe und ein Wörtchen mit dem hungrigen Einbrecher rede.«
»Du nimmst mich nicht richtig ernst. Vielleicht sollten wir die Polizei rufen.«
»Ein bisschen viel Lärm um nichts, oder?«
»Vielleicht aber auch nicht.«
Er setzte sich benommen auf, dann drehte er ihr den Rücken zu, während er die Füße auf den Boden stellte. »Ich geh und schau nach, damit du beruhigt bist. Ich könnte sowieso ein Glas Wasser vertragen.«
Sie fragte sich, ob er nur spielte und versuchte, sie mit seiner aufgesetzten Lässigkeit zu beeindrucken. »Okay, du siehst nach, während ich die Polizei rufe.«
»Tu das nicht, Mary. Wirklich. Das bringt uns nur Ärger. Und wenn dann wirklich etwas passiert, glauben sie uns womöglich nicht mehr. Ich geh jetzt in die Küche, wo ich wahrscheinlich einen Eiswürfel auf dem Boden finden werde. Vielleicht ist auch etwas in den Schränken umgefallen.«
»Es hat sich weder nach dem einen noch dem anderen angehört.«
Er streckte seinen Arm nach hinten und tätschelte ihr Knie. »Vielleicht nicht in deinem schläfrigen Kopf.«
»Ich war wach, Donald. Ich konnte nicht schlafen.« Eine Lüge. Ich habe Angst genug, um ihn anzulügen.
Er stand auf und tapste barfuß in Richtung Schlafzimmertür.
»Warte!« Hastig sprang sie aus dem Bett und zog sich ihren Morgenmantel über. »Ich komme mit.«
Während er wartete, ging sie zu den Büchern, die auf dem Fensterbrett aufgereiht standen, und nahm eine der Buchstützen, die wie Ananasse aussahen. Sie war mit Gips überzogen, aber innen aus Blei und schwer genug, falls sie sie brauchen würde.
Donald nahm sie ihr aus den steifen Fingern. »Ich nehme das.« Er wog die Buchstütze in seiner rechten Hand. »Ich will nicht, dass du wegen einer Maus in Panik gerätst und mich mit diesem Ding hier aus Versehen erschlägst.«
»Wir haben keine Mäuse.«
Mary folgte ihm aus dem Schlafzimmer. Warum tue ich das? Warum bleibe ich nicht hier und rufe die Polizei?
Doch es ging alles viel zu schnell, und sie konnte ihn nicht alleine gehen lassen. Außerdem hatte er wahrscheinlich recht, sagte sie sich. Was immer sie gehört hatte, oder geglaubt hatte zu hören, war wahrscheinlich nichts, wovor sie Angst haben musste.
Aber sie hatte Angst.
Die Küche war sanft erleuchtet vom Display am Ofen. Mary stand dicht hinter Donald, als er durch die Tür trat. Sie hörte, wie er scharf einatmete, und sah, wie sein Körper sich versteifte. Sie lehnte sich zur Seite und schaute um ihn herum.
Ein Mann saß am Küchentisch. Vor ihm standen ein offener Milchkarton und ein halbes Glas Milch, daneben lag ein halb ausgewickelter Laib Brot. Mary merkte, dass es nach etwas Vertrautem roch. Eine Sekunde später sah sie, was es war – geräuchertes Fleisch. Der Mann aß ein Pastrami-Sandwich. Er saß vornübergebeugt am Tisch und hatte gerade einen großen Bissen genommen, als sie ihn gestört hatten.
Er wirkte überrascht, aber nicht sonderlich. Eher enttäuscht und verärgert.
Was als Nächstes geschah, verschlug ihr den Atem.
Es war fast, als habe er erwartet, entdeckt zu werden. Er war bereit zu handeln. In einer einzigen geschmeidigen, blitzartigen Bewegung sprang er vom Stuhl auf und kam um den Tisch herum. Dabei schwenkte er ein Messer. Mary sah sofort, dass er hautfarbene Gummihandschuhe trug. Der Bissen Pastrami-Sandwich blieb in seinem Mund, vergessen und ungekaut, ein langer roter Streifen des hauchfein geschnittenen Fleisches lugte hervor wie eine zerfetzte Zunge. Donald, vom Schock gelähmt, hatte keine Zeit zu reagieren. Es war, als habe sein Angreifer für diesen Moment geprobt, als ob er einer Choreografie folgen würde. Ohne zu zögern war der Mann über
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