Opferspiel: Thriller (German Edition)
bemerkte, wie er versuchte, sich einen von hundert möglichen Gründen aus den Fingern zu saugen, weshalb er sie nicht ohne Termin empfangen konnte. Doch nach den Zusammenstößen mit Dan und Foxy war sie nicht in der Stimmung, sich abwimmeln zu lassen, und Mr. Montague schien das zu spüren. Als sie vor seinem Schreibtisch Platz nahm, vermutete sie, dass sie ziemlich akkurat seinen Blutdruck errechnen könnte, wenn sie die Zuckungen pro Minute seiner Schläfenader zählte, derweil er seine Krawatte zurechtrückte und mit dem Handballen glättend über sein sich lichtendes Haar fuhr.
»Na schön, Rory Mason, hier haben wir’s«, sagte er und zog eine Aktenmappe aus dem Schubladenschrank. »Anämie im vergangenen September, die Großmutter starb im Oktober, Bronchitis im November. Dezember, ach ja, das fand ich besonders kreativ, ›Darmverschlingung‹. Die Oma durchlebte eine Wiederauferstehung im Januar, blieb letztlich aber leider nicht unter uns, und Rory brauchte zwei Wochen, um über das Trauma hinwegzukommen.«
»Nein, nein«, korrigierte ihn Jo, »die Mutter meines Mannes ist wirklich gestorben.« Sie verschwieg dabei, dass Dans Mutter bereits im vorigen August das Zeitliche gesegnet hatte, und zwar mit über neunzig und mit fortgeschrittenem Alzheimer, und dass ihre eigene Mutter noch vollkommen gesund und munter war. »Und Rory hing sehr an ihr«, fügte sie hinzu. Rory war ein guter Junge, er hatte ein gutes Herz, und letzten Endes war es das, worauf es ankam. Er mochte nicht der eifrigste Schüler sein, aber er hatte jedes Mal die Hand seiner Oma gehalten, wenn er sie besuchte. Güte und Freundlichkeit waren ihr jedenfalls zehnmal wichtiger, wenn es um den Charakter ihres Sohnes ging, als ein beschissener regelmäßiger Schulbesuch.
Sie überflog die Entschuldigungsbriefe, die Rory getürkt hatte, und seufzte. Er hatte noch nicht einmal versucht, ihre Unterschrift zu fälschen.
»Oh, mein Beileid«, sagte Montague, ohne im Entferntesten mitfühlend zu klingen. »Trotzdem nehme ich an, dass diese Schreiben gefälscht sind.«
»Keineswegs«, log sie.
»Dann entschuldige ich mich«, log Montague zurück.
»Ich finde, Sie hätten uns Ihre Bedenken wegen Rorys Fehlzeiten früher mitteilen sollen, das muss ich sagen.«
»Ich habe mehrmals mit Ihrem Mann gesprochen. Er hat hier in meinem Büro auf demselben Stuhl gesessen wie Sie jetzt«, schoss der Direktor zurück, wobei sich kleine Spuckefäden in seinen Mundwinkeln bildeten.
Jo begann ihre Hände zu kneten. Diese ständigen Streitereien entfernten sie und Dan immer mehr voneinander. Es war anders, wenn man zusammen wohnte und die Prob leme nicht ignorieren konnte, weil sie sonst bis in den nächsten Tag weiterschwelten und die Atmosphäre auch für die Kinder vergifteten. Wenn man zusammenlebte, dann hakte man Auseinandersetzungen ab, man akzeptierte es, wenn man im Unrecht war, und versuchte, nicht darauf herumzureiten, wenn man recht gehabt hatte. Doch inzwischen war jegliches Vertrauen zwischen ihnen derart zerstört, dass er ihr zutraute, ein Mordopfer zu bestehlen.
»So, worauf wollen Sie nun hinaus?«, fragte sie und holte ihr Telefon aus der Jackentasche, das hartnäckig vibrierte, seit sie hereingekommen war. Ein schneller Blick, und sie sah Sextons Namen aufblinken. Sie musste rangehen.
»Worauf ich hinauswill? Rorys Anwesenheitsquote liegt unter der Mindestanforderung für die Abschlussprüfungen.«
»Aber er will nächstes Jahr seinen Schulabschluss machen! Sie können ihn nicht zurückstufen …«
Mr. Montague wurde lauter, um sie zu übertönen. »Wenn er sich jetzt wirklich anstrengt und für die kurze Zeit, die bis zu den Prüfungen noch bleibt, am Unterricht teilnimmt, werde ich es nicht bei der Schulbehörde melden. Doch falls er noch einen Tag, und ich meine wirklich einen einzigen Tag, fehlen sollte, werden leider drastische Maßnahmen vonnöten sein.«
»Ich verstehe«, sagte Jo, froh darüber, dass der Anruf ihr einen Vorwand lieferte, sich abzuseilen.
»Sie sollten besser schnell herkommen, Birmingham«, sagte Sexton, sobald die Verbindung da war. »Wir haben ein neues Opfer. Es lebt zwar noch, aber sein Leben hängt an einem seidenen Faden. Und es wird schwer werden, es mit den Skids in Verbindung zu bringen. Es ist ein Priester.«
16
Sextons Krawatte hing locker um seinen Hals, als er Jo am Eingang für ambulante Patienten des St. Vincent’s Hospital abholte. Ein paar Kranke in Schlafanzügen und Bademänteln, die
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