Opferspiel: Thriller (German Edition)
abzunehmen, die Flüssigkeitsmenge abzulesen und sie auf ihrem Blatt zu notieren.
Jo musterte das Gesicht des Priesters.
»Keine Fragen«, warnte die Schwester, ihre Gedanken lesend.
Doch der Patient war so unansprechbar wie eine Mumie. Sein Unterkiefer wurde mit einer weißen Baumwollbandage, die doppelt um sein Kinn gewickelt und im Nacken grob verknotet war, auf grausam aussehende Weise schräg nach unten gezerrt. So hielt man den Rachen für den durchsichtigen Schlauch des Beatmungsgerätes offen, der in seiner Luftröhre steckte. Ein weiterer Schlauch für die künstliche Ernährung verlief durch seine Nasenlöcher bis hinunter in den Magen. Der Dialyseapparat neben seinem Bett stöhnte, als sei er es, der gefoltert wurde. Zahnräder drehten sich rhythmisch und trieben die Pumpen an, die das Blut des Priesters hinein- und hinausspülten. Eine Vene in seinem Hals leitete den Hauptstrom zum Herzen, und der Dialysekatheter rang um Platz mit einer ganzen Ansammlung kleinerer Nadeln, die wie Stängel aus der winzigen Stelle ragten. Eine Kanüle an seinem Handrücken lag bereit, falls einer der anderen Schläuche versagte oder vom Körper abgestoßen wurde.
Jo fiel die starke bläuliche Färbung seiner Wangen auf, die mit den dunklen Augenringen verschwamm. »Wodurch wird das verursacht?«, erkundigte sie sich.
»Meistens ist das ein Anzeichen für eine extrem hohe Körpertemperatur und eine Überproduktion von weißen Blutkörperchen, weil der Körper eine Infektion bekämpft. Sie können ihm das hier geben, wenn Sie möchten.« Die Schwester drückte Jo ein Schwammstäbchen, das wie ein Lolli aussah, in die Hand, und zwar auf eine Art, die heißen sollte, dass das hier ein Ort für die Familie war. »Der Mund wird sehr trocken, wenn er die ganze Zeit so offen stehen muss.«
Jo verstand, was sie ihr sagen wollte. Sie tauchte das rosa Schwämmchen in einen Plastikbecher mit Wasser, drückte es an seine ausgetrockneten Lippen und sah, wie sie reflexhaft zuckten. Sie betrachtete die Geräte, an denen die Durchschnittswerte für seinen Puls, den Blutdruck, die Atemfrequenz, die Körpertemperatur und den kardiovaskulären Druck auf den intravenösen Zugang aufleuchteten. Dann, als ihr bewusst wurde, dass es nur eine Frage von Momenten war, bis sie anfing, an ihre persönliche Tragödie und den Tod ihres Vaters zu denken, verabschiedete sie sich von der Oberschwester und ging.
Ein paar Minuten später stand sie mit Sexton draußen auf dem Parkplatz. »Können Sie bis morgen übernehmen?«, fragte sie ihn. »Es ist ein Problem aufgetaucht, um das ich mich kümmern muss.«
Sexton nickte. »Klar. Was soll ich tun?«
»Finden Sie heraus, ob Pater Reginald einen Bruder hat«, sagte sie und dachte an das, was die alte Mrs. Nulty über den unbekannten Besucher erzählt hatte. »Außerdem müssen wir mit den Mädels auf der Straße sprechen und hören, ob eine von ihnen etwas über Rita und ihren letzten Freier weiß.«
»Okay, mache ich«, sagte er und bot ihr eine Zigarette an.
Sie nahm sie und beugte sich über das Feuerzeug in seiner hohlen Hand. »Rufen Sie mich heute Abend an, falls Pater Reg zu sprechen anfängt. Egal, wie spät es ist, auch mitten in der Nacht.«
17
Jo rauchte Kette, während Rory ihr vor dem weit geöffneten Wohnzimmerfenster Grand Theft Auto: San Andreas erklärte. Sie stand im Vorgarten und drehte sich schuldbewusst bei jedem Zug zur Seite, hörte ihm aber zu. Er saß vorm Fernseher, die Spielkonsole in der Hand.
Sie hatte ihn aufgespürt, indem sie Becky anrief, die ihr riet, im Zentrum von Dundrum nach ihm zu suchen. Und tatsächlich, dort hatte Rory an einem Geländer gelehnt und den Springbrunnen angestarrt, wie einer, der drauf und dran war, eine einstweilige Verfügung wegen antisozialen Verhaltens zu provozieren, die Turnschuhe offen und die Hose so tief hängend, dass eine Handbreit seiner Boxershorts herausguckte. Er hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, seine Schuluniform auszuziehen. Jo hatte ihn mit Bestechungsgeld nach Hause gelockt, zwanzig Euro. Sie hatte Harry zu seinem Mittagsschlaf hingelegt und versuchte nun, Rory in gute Stimmung zu versetzen, damit sie allmählich auf das ernste Wörtchen zusteuern konnte, das sie mit ihm reden musste. Nachdem er sie ausführlich über das Spiel informiert hatte, trat sie die Kippe mit dem Fuß aus und ging in die Küche, wo sie einen Familienbecher Häagen-Dazs aus dem Gefrierfach holte und sich ein paar Löffel davon in den Mund
Weitere Kostenlose Bücher