Opferzeit: Thriller (German Edition)
Produzenten von The Cleaner waren verärgert, weil er gestern nicht da war. Er hat das ungute Gefühl, dass man sich heute oder Anfang nächster Woche im Studio mit ihm zusammensetzen wird, um ihm zu erklären, dass dies Versäumnis Nummer eins gewesen ist und er in einer Wegwerfgesellschaft beim nächsten Versäumnis weg vom Fenster sei.
Hierher zu fahren ist womöglich sein zweites und letztes Versäumnis.
»Detective«, sagt Raphael, er hat ein Handtuch um die Taille gewickelt und außer einem Paar Socken nichts am Körper, und Schroder hofft, dass er in Raphaels Alter auch noch so gut aussieht wie er.
Schroder lächelt. »Carl genügt«, erinnert er ihn. »Ich kom me ungelegen, was?«
»Es sei denn, Sie wollen mit mir unter die Dusche hüpfen«, sagt Raphael lachend, und Schroder lacht ebenfalls über den Scherz, auch wenn er zu erwarten war.
»Ich brauche nur ein paar Minuten Ihrer Zeit«, sagt Schroder. »Sollen wir reingehen, oder wollen Sie hier in der Kälte an der Tür stehen, damit Ihre Nachbarn was zu sehen kriegen?«
»Ähm … also, es ist nur so, Carl, ich hab’s ziemlich eilig. Können wir das nicht verschieben?«
»Es wird nicht lange dauern«, sagt Schroder, und das erinnert ihn an gestern Abend, als Raphael an der Tür des Gemeindezentrums stand und sie nicht hereingebeten hat. Das weckt sein Misstrauen. Sicher, nach all den Jahren als Cop erscheint ihm alles verdächtig. Am liebsten würde er den alten Klassiker hinterherschieben: Es sei denn, Sie haben was zu verbergen . Er hat diesen Satz im Laufe der Jahre oft zu Leuten gesagt, die etwas zu verbergen hatten. Manchmal funktioniert es, manchmal nicht.
»Ähm, sicher, kommen Sie doch rein.«
Raphael wendet sich ab und geht die Diele hinunter. Schroder folgt ihm. Er war schon mal hier. Um Raphael und seiner Frau mitzuteilen, dass ihre Tochter ermordet wurde. Das war vor über einem Jahr, aber jetzt, wo er wieder hier ist, kommt es ihm vor, als wäre es erst letzte Woche gewesen. Damals wussten Raphael und seine Frau Sekunden, nach dem sie die Tür geöffnet hatten, dass keine guten Neuigkeiten auf sie warteten, als Schroder und sein damaliger Partner, Detective Landry, ihre Marken zückten und sie fragten, ob sie hereinkommen dürften. Die Polizei überbringt keine guten Neuigkeiten – sie kommt nicht vorbei, um einem mitzuteilen, dass man den Jackpot geknackt oder eine Reise gewonnen hat. Noch bevor sie es ins Wohnzimmer geschafft hatten, brach Raphaels Frau in Tränen aus, und Raphael und Schroder mussten ihr aufs Sofa helfen. Raphael setzte sich neben sie, hielt ihr die Hand und schüttelte die ganze Zeit den Kopf, als könnte er die Neuigkeiten so vertreiben, und immer wieder sagte er Aber wir haben sie heute Morgen doch noch gesehen , als könnte er mit diesen Worten das Böse, das in ihr Leben eingedrungen war, abwehren. Schroder und Landry blieben eine Stunde. Diese eine Stunde veränderte Raphaels ganzes Leben und das seiner Frau, aber für Schroder und Landry, die schon öfter ähnliche Nachrichten überbracht hatten, war es nur eine Stunde von vielen. In letzter Zeit muss er oft an Landry denken, an die eine Stunde, die sein Leben veränderte, und an Landrys Beerdigung vor knapp einem Monat. Vor einem Jahr war das Haus noch ordentlicher. Nirgends mehr spürt man den Einfluss einer Frau oder ihre Anwesenheit.
Sie gehen ins Wohnzimmer. Raphael schaut sich um, als hätte er etwas verloren.
»Haben Sie Besuch?«, fragt Schroder.
»Was? Nein, keinen Besuch.«
»Haben Sie immer zwei Gläser Wasser rumstehen?«
Raphael schüttelt den Kopf. »Eins ist noch von gestern Abend«, sagt er und lässt den Blick durchs Zimmer wandern. »Ich hab’s mir eingegossen und nicht ausgetrunken, und, na ja, ich war zu faul, es zu spülen. Es ist mir peinlich, das zuzugeben, aber wenn Sie sich hier im Haus umsehen, werden Sie noch jede Menge weiterer Gläser finden. Wenn Sie für mich aufräumen wollen, nehme ich Ihre Hilfe gerne an.«
Schroder setzt sich aufs Sofa. Er glaubt ihm. Es sieht aus, als wurde hier seit einer Weile nicht mehr sauber gemacht. Auf dem Couchtisch liegt ein Stapel ungeöffneter Rechnungen. Die Fernsehzeitung neben ihm ist vom letzten Jahr. Sie dient als Untersetzer.
Er greift in seine Jacketttasche nach dem Foto, das gestern Abend im Wagen hätte sein müssen. Er hat keine Ahnung, wo er es verloren hat, aber er hatte zu Hause noch eine Kopie. Von ein paar Dingen hat er zwei Kopien gemacht. »Haben Sie diese Frau schon
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