Opferzeit: Thriller (German Edition)
angefühlt zu duschen. Als das Wasser abgedreht wird, wirft man mir ein Handtuch, einen frischen Overall und Socken zu, und ich habe eine weitere Minute, um mich anzuziehen. Dann bringt man mich zurück in meinen Zellenblock. Einige der Häftlinge spielen Karten oder schauen fern oder führen irgendwelche banalen Gespräche, wie man das tut, wenn man fünf oder zehn oder zwanzig Jahre absitzen muss; Gespräche, die bereits nach dem ersten Tag anfangen, sich zu wieder holen. Ich beteilige mich nicht daran, stattdessen trete ich in meine Zelle, setze mich aufs Klo und suhle mich zehn Minuten lang in Selbstmitleid, und die Toilette muss es ertragen.
Ich warte darauf, dass es mir besser geht. Aber das tut es nicht.
Ich versuche dahinterzukommen, was mit Melissa passiert ist. Vergeblich.
Eigentlich sollte ich inzwischen auf freiem Fuß sein. Aber das bin ich nicht.
Joe der Optimist hat Mühe, seinem Namen gerecht zu werden.
Ich bin gerade mal eine Minute von der Toilette herunter, da erscheinen die Wärter und bringen uns zum Abendessen. Ich habe immer noch keine Schuhe an. In unserer Gruppe gibt es keine Neuzugänge, und es wurde auch keiner entlassen. Es gibt das gleiche unidentifizierbare Fleisch wie immer. Caleb Cole sitzt ein paar Tische entfernt von mir. Er sitzt alleine. Bei seinem Anblick beginnt mein Gesicht zu schmerzen. Ich betrachte das Essen, doch ich kriege nichts davon runter.
»Freust du dich auf Montag?«, fragt mich Santa Suit Kenny. Er setzt sich links neben mich und macht sich über das Fleisch her, das heute Morgen vielleicht noch das Haustier von irgendjemandem war. Oder irgendjemand.
Ich denke über seine Frage nach. Ich bin mir nicht sicher. Einerseits nein, denn es könnte eine Justizfarce daraus werden, und man spricht mich schuldig. Andererseits ja, denn es wird anders als all der ganze Schwachsinn hier sein. Ich bekomme die Möglichkeit, meinen Ruf wiederherzustellen.
Ich fasse all das mit einem Achselzucken zusammen.
»Ja, ich weiß, was du meinst«, sagt er, was mir zeigt, dass ich öfter etwas durch ein Achselzucken zusammenfassen sollte. Ich werde darauf zurückkommen, wenn ich in den Zeugenstand trete. Mr. Middleton, haben Sie diese Frauen getötet? Sie zucken mit den Achseln? Verstehe … also, ich glaube, jetzt wissen wir Bescheid .
»So ein Prozess ist eine heftige Sache«, sagt Santa Kenny. »Die Menschen sehen nicht, wie du wirklich bist. Sie sehen dich nur im Licht der schlimmen Dinge, die sie dir zutrauen, der schlimmen Dinge, die du ihrer Meinung nach getan hast. Mit jedem Copfilm und jedem Serienmörderfilm werden die Dinge, die sie dir zutrauen, schlimmer. Für sie sind wir Hannibal Lecter, aber ohne seine Klasse.«
Ich verzichte auf den Hinweis, dass Kenny für sie einfach nur ein Schwerverbrecher in einem Weihnachtskostüm ist und dass kein Krimi oder Weihnachtsfilm der Welt irgendetwas daran ändern wird.
»Das ist absolut unfair«, fügt er hinzu.
Ich schiebe mein Tablett zur Seite. Würde ich in meinem jetzigen Zustand irgendetwas essen, würde das eine heftige Reaktion hervorrufen. Santa Kenny stopft sich Kartoffelpüree in den Mund, das heute Morgen – wie das Fleisch – bestimmt noch etwas ganz anderes war. Er kaut hastig und schluckt es geräuschvoll herunter, dann setzt er die Unterhaltung fort. Egal, was man sich so erzählt, der Knast kann voller wirklich netter Leute sein.
»Ich habe darüber nachgedacht«, sagt er, »was ich mit meinem Leben anfangen soll, wenn die Band nicht wieder zusammenkommt.«
Zum ersten Mal an diesem Tag entgegne ich ihm etwas. »Ich glaube, dass du echt Talent als Häftling hast«, sage ich. »Außerdem hast du Erfahrung darin.«
»Ich wollte immer Schriftsteller werden.«
Ich kann meine Überraschung nicht verbergen. »Tat sächlich?«
»Ja. Ein Krimiautor«, sagt er. »Du liest doch Liebesromane, oder? Tja, Krimis sind noch beliebter als Liebesgeschichten«, sagt er.
Ich möchte ihm sagen, dass er sich verpissen soll.
»Ich glaube, ich werde versuchen, beides miteinander zu kombinieren«, sagt Santa Kenny.
»Ach ja? Wie soll das funktionieren?«
»Ich weiß nicht, das ist es ja. Ich brauche eine wirklich gute Idee.«
»Du brauchst wahrscheinlich jede Menge guter Ideen«, sage ich, ohne ihn dabei anzusehen, denn ich schaue über seine Schulter hinweg zu Caleb Cole, der ein paar Tische weiter sitzt. Cole blickt mich ebenfalls an. Er wirkt wütend. Wäre ich ein Zocker, würde ich darauf wetten, dass er mir nach dem
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