Opferzeit: Thriller (German Edition)
auf einem Tablett. Er starrt mich an, ich starre zurück, und dann schenke ich ihm das breite Slow-Joe-Grinsen mit allen Zähnen.
»Hab gehört, du machst gerade eine schwere Phase durch«, sagt Schroder.
Mein Grinsen verschwindet. Bei einigen Leuten verfehlt es einfach seine Wirkung. »Ich dachte, Sie machen gerade eine schwere Phase durch«, sage ich. »Joe hat gehört, dass man Sie gefeuert hat«, sage ich, denn er wurde gefeuert, weil er betrunken an einem Tatort aufgetaucht ist. Ich frage mich, ob es Leute wie ich sind, die Leute wie ihn dazu bringen, zur Flasche zu greifen. Es ist nur so, dass man als Cop nicht gefeuert wird, wenn man betrunken zur Arbeit erscheint. Man wird suspendiert, vielleicht degradiert, aber gefeuert? Nein, nicht wenn die Polizei Probleme hat, genug neue Leute anzuwerben. Schroder wurde wegen etwas anderem gefeuert, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich seufzend zurücklehnt und sagt: Also, Joe, in Wirklichkeit ist Folgendes passiert.
»Joe hört bestimmt eine Menge«, sagt er. »Und Joe sollte wissen, dass seine Zukunft echt beschissen aussieht. Du wirst nicht ungestraft davonkommen, also hör wenigstens mit diesem scheiß Theater auf.«
»Joe mag Schauspieler. Joe mag Fernsehserien«, sage ich.
Er verdreht ein wenig die Augen, dann zwickt er sich in den Nasenrücken. »Komm, Joe, hör auf mit dem Scheiß, okay? Ich weiß, du hast gerade reichlich Zeit, aber ich bin nicht hier, um meine Zeit zu verplempern. Ich bin hier, um dir ein Angebot zu machen. In vier Tagen beginnt dein Prozess. Du …«
»Sie sind kein Bulle mehr«, erkläre ich ihm. »Warum sind Sie hier? Wie oft haben Sie mich letztes Jahr besucht, um mich zu Melissa zu befragen? Ich bleibe dabei …«
»Deswegen bin ich nicht hier«, sagt Schroder und streckt die Hand aus.
Seit meiner Verhaftung hat man mir verschiedene Anreize geboten, damit ich rede, aber gleichzeitig erzählt man mir, ich würde das Tageslicht nie wieder sehen. »Warum sind Sie dann hier?«, frage ich.
»Ich will wissen, wo Detective Calhoun begraben liegt.«
Eines der Opfer, das man mir zugeschrieben hat, bevor ich verhaftet wurde, hieß Daniela Walker. Nur dass ich sie nicht getötet habe. Der Täter hat den Tatort manipuliert, damit es so aussieht, als wäre sie ebenfalls dem Schlächter von Christchurch zum Opfer gefallen. Das hat mich geärgert. Ja, ich war deswegen so verärgert, dass ich ihren Tod untersucht habe und herausfand, dass sie von einem Detective namens Robert Calhoun getötet worden war. Calhoun war zu ihrem Haus gefahren, um mit ihr zu reden und sie davon zu überzeugen, ihren Ehemann zu verklagen, der sie geschlagen hat, doch irgendwie kam es dazu, dass Calhoun sie schließlich selbst verprügelte. Mein Plan war es, ihm alle meine Morde anzuhängen. Aber das hat nicht geklappt. Ich habe Calhoun nicht getötet. Ich habe ihn zwar entführt und gefesselt. Aber es war Melissa, die das Messer in seinen Körper rammte.
Ich zucke die Achseln. »Ist das ein Schauspieler?«
»Er ist Polizist. Der Mann, dessen Ermordung du gefilmt hast.«
»Dann ist er also doch Schauspieler.«
Er ballt seine Fäuste, aber nur ganz leicht. »Ich hab ja keine Ahnung, wie es dir ergangen ist, aber für mich verging die Zeit wie im Flug. Als hätte sich die Verbrechensrate in Christchurch eine kleine Auszeit gegönnt. Die Leute feiern immer noch auf den Straßen. Seit deiner Verhaftung ist die Mordrate in den Keller gegangen. Ich bin zwar kein Cop mehr, aber die Stadt braucht jetzt nicht mehr so viele Cops.«
»Das ist Schwachsinn«, sage ich. Ich sehe die Nachrichten. Da draußen geschehen immer noch schreckliche Dinge. Nur dass ich nicht mehr mit von der Partie bin. »Was wollen Sie?«, frage ich.
»Ehrlich? Am liebsten würde ich diesen Stuhl nehmen und dir damit den Schädel einschlagen. Aber ich bin hier, weil ich deine Hilfe brauche, und du meine.«
»Hilfe? Das soll wohl ein Scherz sein.«
»Ich bin nicht hergekommen, um mit dir zu scherzen, Joe.«
»Warum ist mein Anwalt nicht hier?«
»Weil Anwälte nur stören, Joe. Für die Hilfe, die ich brauche, ist kein Anwalt nötig.«
»Ich bin ein unschuldiger Mann«, sage ich. »Wenn der Prozess beginnt, werden die Leute erfahren, dass ich krank bin. Ich bin in dem ganzen Fall selbst ein Opfer. Die Taten, die man mir zur Last legt – das war ich nicht. Nicht mein wahres Ich. Das Gericht bestraft keine Opfer.«
Schroder fängt an zu lachen. In all den Jahren, die ich in seiner
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