Opferzeit: Thriller (German Edition)
sagt er, und für einen Moment muss Melissa an ihre Schwester denken. »Kurz nach ihrem Tod, ich und meine Frau – also, häufig hält eine Ehe so einer Belastung nicht stand. So wie bei uns. Es gab kaum etwas, das mich zum Weitermachen bewegen konnte. Aber mir wurde klar, dass es nicht nur mir so geht. Andere Menschen litten ebenfalls. Ich dachte, ich könnte ihnen vielleicht irgendwie helfen. Aber es vergeht kein einziger Tag, an dem ich mir nicht vorstelle, wie es ist, den Mann zu töten, der meine Tochter umgebracht hat. Und dort draußen sind noch andere Schlächter unterwegs. Andere Männer, die unsere kleinen Mädchen töten. Diese Gruppe hier ist besser als nichts«, sagt er, »aber die Wahrheit ist: Könnte ich eine Bürgerwehr gründen, die in der Stadt nach dem Rechten sieht und den Abschaum beseitigt, würde ich das tun. Ich sehe es ständig vor mir, wie in einem Western, wissen Sie? Eine Gruppe von Weltverbesserern, die in die Stadt geritten kommt, verstehen Sie, Revolverhelden. À la John Wayne. À la Clint Eastwood. Das kann ich natürlich nicht tun. Aber ich kann Ihnen helfen. Meine Tage sind gezählt. Ich warte auf etwas, das mir eine Perspek tive eröffnet. Etwas, für das es sich lohnt, weiterzuleben. Und das ist, Joe zu töten. Mein eigenes Leben ist mir egal. Mein Leben ist letztes Jahr zu Ende gegangen. Diese Selbsthilfegruppe ist so was wie eine lebenserhaltende Maßnahme für mich – sie hält mich am Laufen, sie lässt mich atmen, aber ich bin nicht wirklich am Leben, ich halte bloß durch. Joe zu töten würde mir inneren Frieden schenken, und sobald ich inneren Frieden gefunden habe, kann ich alles um mich herum loslassen. Kann ich … kann ich glücklich sterben. Darum, Stella, sag mir, bitte, dass du mehr hast als nur einen Plan. Denn sonst bleiben mir nur meine Träume. Ich werde tun, was nötig ist. Ohne wenn und aber.«
»Kannst du mit einem Gewehr umgehen?«
»Das kriege ich bestimmt hin. Ist das der Plan?«
»Kannst du, wenn es darauf ankommt, den Abzug drücken?«
Raphael grinst, dann lächelt er und streckt die Hand aus, um seine Argumente aufzuzählen. »Ich habe damit zwei Probleme«, sagt er. »Erstens, ich möchte, dass Joe mich dabei sieht. Ich möchte, dass er mich erkennt. Darum halte ich nichts davon, ihn aus der Distanz mit einem Gewehr zu erschießen. Ich werde es tun, falls es keine andere Möglichkeit gibt, aber ich möchte ihn lieber aus der Nähe erledigen. Ich will sehen, wie das Leben aus seinen Augen weicht. Ich möchte, dass meine Tochter das Letzte ist, woran er denkt.«
»Und das andere Problem?«, fragt sie, und sie weiß, dass es dabei um Schmerz und Folter geht. Keine Frage. Um Schmerz, Folter und eine gehörige Portion Rache.
»Das andere Problem ist, dass ich ihn leiden sehen will. Eine Kugel in die Brust heißt, dass er nicht lange leiden wird. Wenn das also dein Plan ist, und es keine Möglichkeit gibt, ihn zu ändern, dann bleibt es dabei, und ich bin mit von der Partie, aber falls wir …«
Sie streckt die Hand aus und tätschelt seinen Unterarm. »Ich glaube, ich kann dich beruhigen«, sagt sie. »Mein Plan wird deine beiden Probleme lösen.« Es hätte gar nicht besser für sie laufen können. Das ist Schicksal. Kein Zweifel. Schicksal und ihre Fähigkeit, Eigenschaften von Menschen zu erkennen, die andere nicht wahrnehmen. Sie hat Erfahrung darin. Es war ein schneller Lernprozess, der in der Nacht begann, als ihr Uniprofessor ihr die Klamotten vom Leib riss.
»Die Verhandlung beginnt am Montag«, sagt er. »Reicht die Zeit bis dahin?«
»Wir haben volle drei Tage«, sagt sie. »Das ist Zeit genug, um den Plan in die Tat umzusetzen.«
Kapitel 23
Ich bin völlig verschwitzt, und mein Gesicht juckt unter meiner Skimaske. Skimasken sind eine merkwürdige Erfindung. Ich habe es nie erlebt, dass im Fernsehen, weder bei Olympischen Spielen noch in Spielfilmen, jemand beim Skifahren sein Gesicht mit so einer Maske verhüllt. Die Leute tragen Wollmützen, dicke Jacken und glotzäugige Brillen, aber sie sehen nicht wie Bankräuber aus. Eigentlich sollte man die Dinger in Raubmasken umbenennen. Oder Vergewaltigermasken. Ich trage gerade so eine, und mit jeder Minute wird sie feuchter vom Schweiß. Es ist ein sonniger Tag, und die meisten Leute würden an so einem Tag, bei diesem blauen Himmel, keine Skimaske tragen, und wie an jedem sonnigen Tag bin ich gut gelaunt. In den Formen der wenigen Wolken erkenne ich ein Messer und eine Frau, und ich
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