Ophran 3 Die entflohene Braut
herumlungerten, um zu erkennen, was ohne Genevieve aus ihm geworden wäre: ein ungebildeter, zorniger junger Mann, der nichts als Verachtung für die Welt um sich herum übrig hatte. Die meisten dieser ziellosen Burschen schufteten für einen Hungerlohn in den Fabriken oder lebten mehr schlecht als recht von Diebereien, beides Tätigkeiten, die sich besser nüchtern ausführen ließen, was sie selten waren. Gefangen in Armut und Unwissenheit, hofften sie auf nicht viel mehr, als die nächste Woche noch zu erleben und nicht im Kerker zu enden oder durch den Suff, eine Schlägerei oder eine verfluchte Fabrikmaschine umzukommen.
Es war kaum ein Leben, für das es sich zu kämpfen lohnte.
Wie anders waren doch die Kümmernisse von Miss Amelia Belford. Hunger war ein gänzlich abstrakter Begriff für sie, der sich auf das vage Gefühl der Leere bezog, das man zwischen Mittagessen und Nachmittagstee empfand. Jack konnte sich nicht vorstellen, dass es ihr je an etwas gefehlt hatte, Für sie war das Leben ein einziges Fest, das ihr alles bot, was si e sich je erträumt hatte, und mehr.
Und doch hatte sie all das aufs Spiel gesetzt, um eine Kirchenmauer hinabzuklettern und davonzulaufen.
Sie ist grenzenlos naiv, wenn sie auch nur einen Augenblick geglaubt hat, ihr Viscount Philmore könne ihr ein ähnlich luxuriöses Leben bieten, wie sie es mit Whitcliffe genossen hätte, wenn auch auf Kosten ihres Vaters, ging Jack durch den Kopf. Er kannte Philmore nicht, doch wenn dieser auch nur die geringste Ähnlichkeit mit den meisten Vertretern seines Standes hatte, dann wusste Jack, wie Philmore war: verwöhnt, hochnäsig und faul. Vielleicht sollte ich ihn nicht dafür verurteilen, dass er ein getreuer Repräsentant seiner Klasse ist, dachte Jack. Schließlich war sogar Haydon einst genauso gewesen. Doch wenn dieser Philmore so verliebt in Miss Belford war, wie sie offenbar glaubte, warum hatte er sie dann nicht geheiratet? Jack hätte sich nie von Amelias nachfolgender Verlobung mit Whitcliffe und dem Verbot ihrer Eltern, Umgang mit ihm zu pflegen, abhalten lassen. Wenn er auch nur einen Augenblick lang geargwöhnt hätte, dass man sie gegen ihren Willen zu einer Ehe zwang, wäre er zu ihr gegangen, hätte jeden außer Gefecht gesetzt, der sich ihm in den Weg gestellt hätte, und sie dort herausgeholt, verflucht noch mal!
Jack erhob sich aus dem Sessel, zu müde, um weiter über die Angelegenheit nachzugrübeln. Nachdem er das Licht im Salon gelöscht hatte, stieg er langsam die Treppe empor und öffnete dabei die Knöpfe seines Hemdes.
Oben angekommen, bemerkte er, dass aus der angelehnten Tür des Gästezimmers ein Lichtstrahl auf den reich gemusterten Orientteppich fiel. Ob Miss Belford wohl etwas fehlt, fragte er sich besorgt und trat in ihr Zimmer.
Sie schlief zusammengekauert auf dem Bett, und ihr blondes Haar breitete sich wie ein seidiger Schleier über das weiße Meer aus Kissen und Laken. Ihr bedauernswertes Brautkleid hing als bauschiges Bündel über einem Stuhl, und auf einem Tisch stand ein Tablett mit Tee, Toast und kaltem Rinderbraten, wovon Amelia offenbar nichts angerührt hatte. Sie hatte im Schlaf ihre wollene Bettdecke fortgeschoben, doch als Jack näher trat, erkannte er sofort, dass sie fror und zugedeckt werden musste.
Sie trug ein Nachthemd aus elfenbeinfarbener Baumwolle, das am Dekollete mit kleinen Rosenknospen bestickt und mit zarter Spitze gesäumt war. Es besaß keine der üppigen Verzierungen, die ihr Brautkleid so aufdringlich kostbar hatten wirken lassen, und Jack fand, dass es ihr viel besser stand. Der runde Ausschnitt umspielte locker ihre Schultern und Brüste und erlaubte einen Blick auf ihre samtige Haut, und der mit Spitze besetzte Saum war über ihre Wade gerutscht und entblößte ihre kleinen, wohlgeformten Füße. Jack lehnte sich an den Bettpfosten und betrachtete sie eine geraume Weile.
Seine Miene verdüsterte sich, als er eine glitzernde Träne an ihren Wimpern entdeckte.
Er hätte Lizzie bitten sollen, bei ihr zu bleiben, wurde ihm bewusst. Miss Belford hatte sich auf der Fahrt nach London zwar zuversichtlich gegeben, doch ihr Hochzeitstag war von zutiefst aufwühlenden Gefühlen erfüllt gewesen, die nun, da sie endlich ausruhen konnte, ihren Tribut forderten. Wenn er jedoch nicht eingewilligt hätte, sie mitzunehmen, wäre sie heute Nacht eine Gefangene in Whitcliffes Bett, eine verängstigte, unwillige Braut, der keine andere Wahl blieb, als alles zu erdulden, was ihr
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