Optimum 1
übrigens Lars.«
»Rica«, sagte Rica und zog den Gurt ihres Rucksacks über die Schulter, bevor sie ihm die Hand gab. »Kann ich den einfach hier liegen lassen?« Ihre Canon war darin. Ihr kostbarster Besitz. Zu Hause hätte sie ihn nie aus der Hand gegeben.
»Hier kommt nichts weg, da musst du keine Angst haben«, sagte Lars. »Aber ich bleibe ja auch unten, ich kann einen Blick drauf haben. Einverstanden?«
Rica war immer noch ein bisschen skeptisch, aber dann legte sie doch den Rucksack auf eine Holzbank rechts von der Kletterwand und trat wieder zu Lars. »Also gut, was muss ich tun?«
Lars schüttelte das Klettergeschirr aus und zeigte Rica, wie sie es anlegen musste. Er überprüfte sorgfältig alle Verschlüsse und sorgte dafür, dass der Hüftgurt stramm saß, bevor er eines der freien Seilenden daran befestigte. Das andere klinkte er an seinem eigenen Hüftgurt ein und zog es so weit an, bis es ziemlich straff gespannt war. Rica schnappte leise nach Luft, als sich das Seil spannte, und ein seltsames Kribbeln breitete sich in ihrem Bauch aus. Sie konnte spüren, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg.
»Was soll ich machen?«, fragte sie. Sie sah jetzt nicht mehr Lars an, sondern die Kletterwand, dieses Mal nicht mehr voller Furcht, sondern voller Vorfreude. Die Menge an Klettergriffen war verwirrend, und doch schienen an entscheidenden Stellen welche zu fehlen.
»Ich würde dir vorschlagen, du versuchst erst mal die rechte Route«, sagte Lars. »Die ist die einfachste. Wenn du noch nie geklettert bist, solltest du damit noch am besten zurechtkommen.«
Rica starrte die Wand an und versuchte vergeblich, überhaupt unterschiedliche Routen auszumachen. Für sie sah es so aus, als wären die Handgriffe völlig willkürlich über die Oberfläche verteilt worden. Doch als sie genauer hinsah, erkannte sie, dass auf der rechten Seite der Wand die Griffe ein wenig näher aneinandersaßen. Auch wenn es ihr immer noch völlig unmöglich schien, von einem zum anderen zu kommen.
»Keine Bange, ich glaube, dass du das locker schaffst.« Lars schien ihre Gedanken gelesen zu haben. Er trat hinter Rica und legte ihr ganz leicht die Hand auf die Schulter. »Du musst dich einfach immer nur auf den nächsten Schritt konzentrieren. Zumindest am Anfang. Und denk lieber gar nicht über die Höhe nach.«
Na super, wenn ich vorher nicht daran gedacht habe, wie hoch das ist, dann doch bestimmt jetzt. Rica verzog das Gesicht, sagte aber nichts, sondern trat an die Wand heran. Einen kurzen Blick warf sie senkrecht an der Wand hoch, dann beschloss sie, dass das keine gute Idee war. Was hatte Lars gesagt? Immer nur an den nächsten Schritt denken.
Vorsichtig griff sie mit der linken Hand nach oben und schloss ihre Finger um den ersten Griff – einen leuchtend gelben, der grob wie eine Banane geformt war. Mit der rechten langte sie noch ein Stückchen höher an einen blauen Griff. Den rechten Fuß setzte sie auf einen Halt knapp in Knöchelhöhe. Dann holte sie tief Luft und löste auch den linken Fuß vom Boden, um sich aufwärtszuziehen und einen Halt etwa in Kniehöhe zu erreichen.
Und da passierte etwas Außergewöhnliches. Der Gurt um ihren Bauch schien sich zu straffen, als Lars das Seil anzog, aber der kurze Ruck störte Rica gar nicht. Ja, sie spürte ihn kaum. Stattdessen wurde sie von einem wunderbaren Gefühl durchströmt, ein Glücksgefühl, das sie so bisher noch nicht gekannt hatte. Sie fühlte sich frei. Anders ließ es sich einfach nicht beschreiben. Frei und absolut sicher, als hätte sie das hier schon hundertmal gemacht.
Rica warf einen Blick nach oben, und als ob der erste Schritt auf die Kletterwand ihr einen Schleier von den Augen gezogen hätte, konnte sie plötzlich ganz klar den Weg nach oben vor sich sehen. Sie wusste einfach, welche Hand- und Fußgriffe sie benutzen musste, wusste, welche Stellen vielleicht schwierig werden und wo sie in die Irre geleitet würde.
Lars hinter ihr rief etwas, irgendwelche Anweisungen, wie es klang, aber Rica nahm seine Worte gar nicht richtig wahr. Das Einzige, was für sie noch zählte, war der Weg nach oben.
Sie griff über sich, fand den Halt auf Anhieb, zog sich hoch, setzte ihren Fuß sicher auf die nächste Stütze und griff gleich mit der freien Hand nach. Es war fast wie in einem Traum, so unwirklich kam ihr das Ganze vor. Immer noch ein Griff, noch ein Stück, ihre Bewegungen waren fließend. Beinah kam es ihr so vor, als gehöre ihr Körper gar nicht mehr zu
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