Optimum 1
steckte den Kopf durch den Spalt. Sie blickte in ein zweigeteiltes Zimmer. Eine Hälfte – von der anderen durch ein Regal getrennt – bestand aus einem wilden Durcheinander von Klamotten, Büchern, Schulsachen, Klettergurten und sonstigem Kram. Auf dem ungemachten Bett machte sich eine wirre Sammlung von Stofftieren, Decken, Kissen, Papieren, CDs und Fotos breit, auf einem überquellenden Regal direkt darüber reihten sich Bücher an eine kleine Sammlung von Schminkzeug und Parfümfläschchen. Die andere Seite war perfekt aufgeräumt, ein bunter Flickenteppich auf dem Boden war so sauber, dass man bestimmt davon hätte essen können. Das Bett war ordentlich gemacht und mit einer ebenso bunten Tagesdecke versehen, und auf dem Schreibtisch lag nichts herum außer einem ordentlichen Stapel Schulbücher und Hefte. Auf dem Schreibtischstuhl davor saß Alina und starrte Rica finster entgegen.
»Was willst du hier?«
Rica wartete nicht auf eine Erlaubnis, sondern schob sich ins Zimmer und schloss die Tür. Es wurde Zeit, dass sie außer Reichweite der Sicherheitskameras kam. »Ich will mit dir über Jo reden«, antwortete sie und musterte Alina. Sie fragte sich, wie jemand zwei so unterschiedliche Mädchen in ein Zimmer hatte stecken können. Alina hatte nichts von Jos Wildheit, aber auch nichts von Elizas stillem, schüchternem, aber doch entschiedenem Auftreten. Sie war – um es freundlich auszudrücken – unauffällig: Jeans, ein einfarbiges Top, dezentes Make-up, blonde lange Haare zu einem ordentlichen Pferdeschwanz gebunden, ein durch und durch normales Gesicht. Rica hatte sich nicht an sie erinnern können, als Robin ihren Namen genannt hatte, und jetzt wusste sie auch, warum. Alina musste der langweiligste Mensch an der ganzen Schule sein. Wäre da nicht der ärgerliche Ausdruck auf ihrem Gesicht gewesen, hätte Rica sie überhaupt nicht wahrgenommen.
»Alle wollen über Jo reden.« Sie verzog das Gesicht. »Ich aber nicht. Und nun verschwinde!« Sie rümpfte die Nase und wedelte mit einer Hand, als wolle sie eine Fliege verscheuchen, machte aber keinerlei Anstalten aufzustehen.
»Das war auch Jos Zimmer«, protestierte Rica. »Und ich muss ein paar Sachen wissen. Es ist wichtig.«
»Aha, wichtig, ja?« Alina zuckte mit den Schultern. Sie sah so gleichgültig aus, dass es Rica einen Stich versetzte. Wie konnte Jos Tod diesem Mädchen nur so egal sein? »Was ist denn so wichtig? Willst du etwa auch die Marke ihrer Lieblingsunterwäsche wissen oder ihr mit Lippenstift Botschaften an den Spiegel schreiben?«
Rica verdrehte die Augen. »Ich will nur reden«, wiederholte sie. »Du hast doch jetzt schon eine ganze Weile mit ihr in einem Zimmer gewohnt. Ich will einfach nur wissen –«
»Ich weiß überhaupt nichts«, unterbrach Alina sie ziemlich unfreundlich. »Und ich wohne hier auch noch nicht lange. Erst seit diesem Schuljahr. Soviel ich weiß, hat es ihre frühere Zimmergenossin nicht mehr mit ihr ausgehalten.« Sie warf einen missmutigen Blick auf das Regal in der Raummitte, hinter dem das Bein einer Jeans hervorlugte. »Ich kann es ihr nicht verdenken. Ich glaube, ich hätte das hier auch nicht mehr viel länger ertragen können. Ich hoffe nur, dass ihre Eltern bald kommen und den ganzen Kram abholen. Es kann doch hoffentlich keiner von mir erwarten, dass ich den Krempel zusammenpacke.« Sie presste ihre Lippen so fest aufeinander, dass nur noch ein schmaler Strich zu sehen war.
Rica war einen Moment lang sprachlos. Sie musste ein paar Mal heftig schlucken, um nicht die Kontrolle zu verlieren und dieser eingebildeten Kuh zu sagen, was sie von ihr hielt.
»Ich glaube nicht daran, dass Jo sich wirklich umgebracht hat«, sagte sie stattdessen. »Und wenn doch würde ich gern herausfinden, warum sie das getan hat. Für …« Sie suchte nach einer Ausrede, und glücklicherweise fiel ihr das ein, was sie gerade dem Portier erzählt hatte. »… für die Schülerzeitung. Ich möchte einen Bericht über Selbstmorde an Schulen verfassen. Und Leistungsdruck.« Sie ließ die Worte einen Augenblick lang bedeutsam in der Luft schweben.
Alina musterte sie misstrauisch, doch dann zuckte sie mit den Schultern, und als sie wieder sprach, war ihre Stimme deutlich ruhiger und weniger aggressiv als zuvor.
»Ich weiß wirklich nicht viel über Jo«, sagte sie. »Wie gesagt: Ich wohne hier noch nicht so lange. Am Anfang des Jahres habe ich versucht, mit ihr Freundschaft zu schließen. Du weißt schon, wie das halt so
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