Orangentage
was sie meinte.
»An Leukämie«, sagte er. Es klang seltsam. Magisch. Als ob sich hinter dem Wort keine Krankheit versteckte, sondern ein Wesen aus einem Fantasyroman.
»Die Nase und das Kinn hast du von ihr, weiÃt du das? Aber die Stirn â¦Â«
Hanka zog die Mundwinkel nach oben. Ihr Lächeln verdarb ihm die Laune. Er kannte seine Stirn nur zu gut, brauchte dazu keine Kommentare. Natürlich war sie gigantisch. Furchtbar hoch und darüber hinaus noch kastenförmig. Er kaschierte das durch sein nach vorne gekämmtes Haar, aber das half nicht lange. Das Haar verselbstständigte sich jedes Mal, flatterte wild und machte auf die Stirn bereits aus der Ferne aufmerksam. Sie sah wie eine Schultafel aus, mühelos würde der ganze Text der Nationalhymne draufpassen. Und wenn man klein und eng schrieb, dann vielleicht sogar eine ganze Ballade wie der Erlkönig .
»Okey-dokey? Wurde mein Zimmer abgenommen?«, fragte er, um weitere Ãberlegungen zu seinem Schädelbau zu stoppen.
Hanka schaute sich nochmals im Zimmer um. »Eine perfekte Bleibe«, sagte sie anerkennend. Sie rückte mechanisch den Lampenschirm gerade, grinste den verschwitzten Ronaldinho auf dem Poster an, hob das Etui mit der Mundharmonika auf. Es war mit einer Schnur umwickelt. Darek streckte den Arm danach aus, aber zu spät â Hanka untersuchte schon die Schnur.
»Lernst du Knoten?«, fragte sie. »Das ist der Schlick, oder? Und das ist der Bulin, den haben wir bei den Pfadfindern gelernt. Kannst du den Franziskanerknoten?«
Darek nickte, schüttelte aber sogleich den Kopf. Er zögerte mit der Antwort. Dass die Knoten keine Pfadfinderübung waren, sondern jeder von ihnen eine unverwechselbare Bedeutung hatte, das wussten nur er und seine Mutter. Er hatte den Knoten sogar Namen gegeben. Der erste, älteste hieà Ema, die Unvollendete . Er war so fest zugezogen, dass er sich nicht mehr lösen lieÃ. Den widerlichen Knoten an dem einen Ende nannte er Hugo ScheiÃschlappschwanz . Er hatte ihn weit weg von den anderen gebunden und betrachtete ihn mit Abscheu, aber aus dem Gedächtnis konnte er ihn nicht löschen. Der vielfache Knoten in der Mitte gehörte dem Vater. Es war unmöglich, ihn zu übersehen, aber er lieà sich nicht so einfach benennen. Wenn Darek mit seinen Fingern darüberstrich, konnte er die einzelnen Windungen kaum voneinander unterscheiden. Er war ein komplizierter und unlesbarer Knoten. In der Schnur gab es noch weitere Knoten verschiedener Art und GröÃe, manche fest und beständig, andere locker, damit man sie losbinden konnte, wenn ihre Zeit vorbei war.
Hankas Aufmerksamkeit verlagerte sich von den Knoten auf die Mundharmonika. Sie hob sie an die Lippen und entlockte ihr einige schwankende Töne.
»Kannst du spielen?«, fragte sie Darek.
»Ganz wenig«, antwortete er. Hanka reichte ihm das Instrument mit einer aufmunternden Geste. Darek spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Opa hatte sie ihm zum Geburtstag geschenkt und Darek hatte sich an den langen Winternachmittagen ein paar Lieder beigebracht, aber immer nur für sich selbst. Höchstens Ema hatte er sie vorgespielt. Ihm fehlte das Selbstbewusstsein, vor einem Publikum aufzutreten.
»Vielleicht ein anderes Mal«, sagte er.
»Warum?«
»Ich hab jetzt keine Lust«, redete er sich heraus, legte die Mundharmonika wieder ins Etui und wickelte die Schnur darum.
»Was wolltest du mir denn zeigen?«
Hanka ging zurück auf den Flur.
»Wenn du dich bei Facebook registrierst, können wir viel mehr in Kontakt sein«, sagte sie.
Darek fand, dass das völliger Schwachsinn war. Im engsten Kontakt waren sie, wenn sie ganz nah beieinanderstanden, sich anschauten und â wie vorhin â sich Hankas Arme um seinen Hals schlangen. Aber sie hatte vielleicht etwas anderes gemeint, was er nicht verstand, sodass er sich lieber seine Einwände verkniff.
Sie setzte sich an den Computer und ihre Finger flogen über die Tastatur.
»Kannst du mit geschlossenen Augen tippen?«, fragte Darek.
»Schon möglich, ich habe es nie probiert. Eigentlich experimentiere ich in anderen Bereichen.«
»In welchen?«
»Ich fotografiere und es macht mir SpaÃ, die Bilder weiterzubearbeiten. Ich erstelle auch Collagen. Auf Facebook habe ich eine kleine Galerie angelegt. Ich bin gespannt, was du dazu sagst. Warte, wir sind gleich
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