Orangentage
»Lass ihn«, riet die Mutter damals, als sie aus dem Büro gekommen waren und Darek sich wütend nach Hugo umschaute. »Du wirst sehen, er kommt uns hinterher.«
Sie hatte recht gehabt. Hugo schlurfte den ganzen Weg vom Einkaufszentrum bis zum Bahnhof immer einen Block hinter ihnen her. Wenn sie stehen blieben, blieb er auch stehen. Mutter rief ihn nicht. Erst im Zug gelang es ihr, sich ihm zu nähern. Sie nahm ihn an der Hand. Sie machte ihm keine Vorwürfe. Sie sagte, dass sie nicht böse auf ihn sei. Dass er sich die Karten wahrscheinlich sehnlichst wünschte. Sie versprach, dass sie es seinen Eltern nicht sagen würde.
Darek hatte gröÃte Lust, ihr den Mund zu verbieten. Er verstand nicht, warum sie so redete. Wie konnte sie denn Hugo verzeihen? War es ihr denn egal, wie mies er sich verhalten hatte? Wie er Ema missbraucht hatte? Er hatte gar keine GroÃzügigkeit verdient! Aber Mutter konnte nicht anders. Sie fühlte sich in jeden hinein. Sie stand mit Hugo im Gang und hielt ihn an den Schultern, als wären sie die besten Freunde. »Es bleibt unter uns, ja?«, schlug sie ihm vor und Hugo nickte eifrig. »Was passiert ist, kann man nicht ändern. Ich weiÃ, dass es dir am meisten leidtut. Ich bin sicher, dass du es nicht noch einmal tun würdest, wenn du den heutigen Nachmittag zurückdrehen könntest.«
Darek musste damals seinen Kopf abwenden, sonst hätte er den Blick auf Hugos bereuendes Gesicht nicht ausgehalten. Mich täuschst du nicht, du Heuchler!, schrie er ihm innerlich zu. Mutter glaubt deinem verdatterten Gesicht, aber ich nicht! Ich zahle es dir heim! Für Ema und mich! Wartâs ab!
Die Luft im Waschraum war schwer geworden, das erhitzte Blut pochte Darek wild gegen die Schläfen, die Zeit dagegen stand still. Hugo und er befanden sich in einer Art geschlossener Zeitschlaufe. Vielleicht kämen sie nie mehr heraus aus der Nummer, vielleicht war es ihr Schicksal, sich bis ans Ende aller Zeiten zu prügeln. Und wenn das Ende nicht kam, würden sie sich hier in dem gekachelten, nach Desinfektion stinkenden Raum ewig massakrieren: ein Schlag mit der Rechten, ducken, nach vorn preschen, Tritt, ein Schlag mit der Linken, ducken â¦
Hugo täuschte vor, wie gewöhnlich. Als es schien, dass er auf dem letzten Loch pfiff, traf er Darek mit unerwarteter Härte am Kinn. Darek wankte und fiel.
»Hast du genug?«, hörte er Hugo über sich. Natürlich hatte er genug. Er wusste, dass Hugo auch genug hatte und dass es nur eine Frage der Zeit war, wer am Ende am Boden bleiben und wer den Kampfplatz verlassen würde, um sich den Sieg auf die Fahne zu schreiben.
»Ja, ich habe genug«, sagte er, »genug von dir, Hurensohn.«
Darek stemmte sich am Waschbecken hoch und spuckte hinein. Die Spucke war blutgefärbt. Er sah, wie sie langsam zu Hugos Zigarette hinunterrutschte, und dabei wurde ihm klar, wie viel Zeit er mit Hugo und dem Hass auf ihn verloren hatte. Wie viel Energie er in die Schlägereien mit ihm investiert hatte. Wie unsinnig es war. Wie idiotisch. Für nichts.
»Es ist so langweilig mit dir, dass es nicht mal mehr Spaà macht, dir die Fresse zu polieren«, verkündete er.
»Keinen SpaÃ, he?« Hugo lachte. »Wer hat gerade die Fresse poliert bekommen? Wer spuckt gerade seine Zähne ins Waschbecken? Hast Muffe vor mir, stimmtâs?«
»Ich wüsste nicht, warum!«, erwiderte Darek und spuckte erneut aus. Dieses Mal war die Spucke nur noch blassrot â wahrscheinlich hatte er sich lediglich innen in die Wange gebissen.
»Dann steh auf und lass mich dir den Rest geben!«
»Gib dir selber den Rest, Milchbubi!«
»Nenn mich nicht Milchbubi!«
»Entschuldige, Milchbub.«
Hugo trat ihn von hinten. Darek stieà mit dem Kopf gegen den Wasserhahn und griff reflexartig nach hinten. Dabei bekam er, ohne dass er es geplant hätte, Hugos Knöchel zu fassen. Er packte fest zu und drehte sich um.
»WeiÃt du, was ich jetzt mit dir anstellen könnte?«, bemerkte er und sah zu, wie Hugo taumelte und sich aus Dareks Umklammerung loszureiÃen versuchte, auf einem Bein hüpfte und nur schwer das Gleichgewicht hielt. »Ich könnte dir noch die zweite Flosse wegziehen und dich hier auf den Fliesen fertigmachen. Du bist wahrscheinlich tierisch geil drauf, aber sorry, du musst jemand anderen darum bitten.«
Darek schleuderte Hugos FuÃ
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