Ort des Grauens
Hausaufgaben erledigen mußte, las ein Kinderbuch.
Bobby fielen zwei farbenprächtige Tabellen und Tafeln an der Wand neben dem Kühlschrank auf. Auf der ersten waren alle Noten und Testergebnisse der Kinder aufgelistet, die sie seit Beginn des Schuljahres erzielt hatten. Auf der Tafel war festgehalten, für welche Haushaltspflichten welches Kind verantwortlich war.
Überall im Land waren die Universitäten in Schwierigkeiten, weil ein übermäßig großer Prozentsatz der aussichtsreichsten Studienbewerber asiatischer Abstammung war. Schwarze und Südamerikaner klagten bitterlich, weil eine andere Minorität sie aus dem Rennen warf, und die Weißen brüllten »Umkehr-Rassismus«, wenn man ihnen wegen eines Asiaten die Zulassung verweigerte.
Einige vermuteten hinter dem Erfolg der Asien-Amerika-ner eine Verschwörung. Bobby aber konnte die simple Erklärung für ihre Leistungen im Haus der Phans überall sehen: Sie gaben sich mehr Mühe. Sie hingen den Idealen nach, auf denen dieses Land aufgebaut war -als da sind: harte Arbeit, Ehrlichkeit, zielgerichtete Selbstverleugnung und die Freiheit, alles das erreichen zu können, was man erreichen will. Ironischerweise verdankten sie ihren großen Erfolg zum Teil der Tatsache, daß viele der gebürtigen Amerikaner diese selben Ideale heute nur noch mit Zynismus betrachteten.
Die Küche öffnete sich zu einem kleinen Wohnzimmer, das ebenso bescheiden eingerichtet war wie der Rest des Hauses.
»Älteste Farris-Tochter wurde hier gefunden, neben Sofa«, sagte Tuong. »Siebzehn.«
»Sehr hübsches Mädchen«, sagte Chinh mit echter Trauer.
»Sie, wie Mutter, wurde gebissen. So sagt unsere Nachbarin.«
»Was ist mit den anderen Opfern, der jüngsten Tochter und Missis Farris' Bruder -wurden sie ebenfalls gebissen?« fragte Julie.
»Keine Ahnung«, entgegnete Tuong. »Die Nachbarin hat ihre Leichen nicht gesehen«, erklärte Chinh.
Sie schwiegen einen Moment, blickten zu Boden, dahin, wo das tote Mädchen gefunden worden war, so als ob die Enormität dieses Verbrechens eigentlich dazu führen sollte, daß es selbst diesem brandneuen Teppich seinen Stempel hätte aufdrücken können. Regen dröhnte auf das Dach.
»Haben Sie nicht manchmal Angst, hier zu leben?« fragte Bobby. »Nicht, weil in diesen Räumen Morde stattgefunden haben, sondern weil der Killer nicht gefunden wurde. Haben Sie keine Angst, daß er eines Tages wieder erscheinen könnte?«
Chinh nickte.
»Gefahr ist überall«, entgegnete Tuong, »das Leben selbst ist Gefahr. Weniger Risiko, niemals geboren werden.« Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht. »In winzigem Boot aus Vietnam wegzugehen, war mehr gefährlich als das.«
Bobby schaute zu dem Tisch in der Küche hinüber und zu den vier Kindern, die immer noch in ihre Aufgaben vertieft waren. Die Aussicht, daß der Mörder an den Ort des Verbrechens zurückkehren könnte, ließ ihn nicht kalt.
»Neben der Arbeit in Reinigungen«, erzählte Chinh, »wir renovieren Häuser, verkaufen sie. Dies ist Nummer vier. Wir leben vielleicht noch ein Jahr hier, renovieren Zimmer um Zimmer, dann verkaufen wir, erzielen Profit.«
»Wegen der Morde«, sagte Tuong, »wollten manche Leute nach den Farris' hier nicht einziehen. Doch Gefahr kann gute Gelegenheit sein.«
»Wenn wir fertig sind mit dem Haus«, ergänzte Chinh, »wird es nicht nur renoviert sein. Es wird sauber sein, rein, geistig-seelisch rein. Verstehen Sie? Die Unschuld des Hauses wird wiederhergestellt sein. Wir werden Böses ausgetrieben haben, welches Killer hereingebracht hat, und wir werden diesen Räumen unseren eigenen geistig seelischen Stempel aufgedrückt haben.«
Nickend sagte Tuong: »Das ist eine Befriedigung.«
Bobby zog den gefälschten Führerschein aus seiner Tasche und hielt ihn so, daß Name und Adresse verdeckt waren, nur das Bild sichtbar war. »Erkennen Sie diesen Mann wieder?«
»Nein«, sagte Tuong, und Chinh stimmte ihm zu.
Nachdem Bobby den Führerschein wieder verstaut hatte, fragte Julie: »Wissen Sie, wie George Farris aussah?«
»Nein«, erwiderte Tuong. »Wie ich Ihnen sagte, er an Krebs gestorben, viele Jahre, bevor Familie ermordet wurde.«
»Ich hatte gedacht, Sie hätten im Haus vielleicht ein Foto von ihm gesehen, bevor das Eigentum der Farris' weggebracht wurde.«
»Nein. Tut mir leid.«
»Sie haben erwähnt, daß Sie das Haus nicht über einen Makler gekauft haben«, bohrte Bobby nach, »sondern mit dem Vermögensverwalter verhandelt
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