orwell,_george_-_tage_in_burma
begriffen alle, worum es ging. Es gab allgemeine Aufregung und Zungenschnalzen. Niemand hatte auf das Kind geachtet - der Vorfall war zu normal, um bemerkt zu werden - , und jetzt schämten sich alle entsetzlich. Alle begannen dem Kind Vorwürfe zu machen. Es gab Ausrufe wie »Was für ein schändliches Kind! Was für ein abscheuliches Kind!« Die alte Chinesin trug das noch heulende Kind zur Tür und hielt es über die Stufen, als wränge sie einen Badeschwamm aus. Und im selben Augenblick - so schien es ihnen - waren Flory und Elizabeth aus dem Laden heraus, und er folgte ihr zurück zur Straße, während Li Yeik und die anderen ihnen bestürzt nachblickten.
»Wenn das die sogena nnten zivilisierten Leute sind - !« rief sie.
»Es tut mir leid«, sagte er schwächlich. »Ich hatte nicht erwartet ...«
»Was für absolut ekelhafte Leute!«
Sie war bitterböse. Ihr Gesicht war wunderschön zartrosa gerötet, wie eine Mohnblumenknospe, die einen Tag zu früh aufgegangen ist. Es war das tiefste Erröten, zu dem ihr Gesicht imstande war. Er folgte ihr durch den Basar zurück zur Hauptstraße, und erst als sie fünfzig Meter weit gegangen waren, wagte er wieder zu sprechen.
»Es tut mir so leid, daß das passiert ist! Li Yeik ist so ein anständiger alter Bursche. Es wäre ein schrecklicher Gedanke für ihn, daß er Sie gekränkt haben könnte. Es wäre wirklich besser gewesen, wenn wir noch ein paar Minuten geblieben wären. Nur um ihm für den Tee zu danken.«
»Ihm danken! Nach alldem!«
»Aber ehrlich, Sie sollten sich an solchen Dingen nicht stoßen. Nicht in diesem Lande. Die ganze Einstellung dieser Leute ist so anders als unsere. Man muß sich anpassen. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie lebten im Mittelalter - «
»Ich glaube, ich mochte nicht mehr darüber sprechen.« Es war das erste Mal, daß sie sich richtig gestritten hatten.
Ihm war so elend zumute, daß er sich nicht einmal fragen konnte, womit er sie so verletzt hatte. Ihm war nicht klar, daß diese ständigen Bemühungen, sie für Orientalisches einzunehmen, ihr nur pervers und nicht ›gentlemanlike‹ vorkamen, als ein ständiges Suchen nach dem Schmutzigen und ›Garstigen‹. Er hatte noch nicht einmal jetzt begriffen, mit welchen Augen sie die ›Eingeborenen‹ ansah. Er wußte nur, daß sie bei jedem Versuch, sie an seinem Leben, seinen Gedanken, seinem Gefühl für Schönheit teilnehmen zu lassen, vor ihm zurückschreckte wie ein scheuendes Pferd.
Sie gingen die Straße entlang, er links und ein bißchen hinter ihr. Er sah ihre abgewandte Wange und die goldenen Härchen in ihrem Nacken unter der Krempe ihres Terai- Hutes. Wie er sie liebte, wie er sie liebte! Es war, als hätte er sie bis zu diesem Augenblick noch nie wirklich geliebt, da er in Schande hinter ihr ging und nicht einma l wagte, sein entstelltes Gesicht zu zeigen. Er setzte mehrmals zum Sprechen an und verstummte dann wieder. Seine Stimme schwankte ein bißchen, und er wußte nicht, was er sagen konnte, ohne zu riskieren, sie irgendwie zu verletzen. Schließlich sagte er mat t mit dem schwachen Versuch, so zu tun, als wäre nichts vorgefallen:
»Es wird gräßlich heiß, nicht wahr?«
Bei einer Temperatur von 30 Grad im Schatten war das nicht gerade eine brillante Bemerkung. Zu seiner Überraschung ergriff sie diese Gelegenheit mit einer Art Gier. Sie wandte sich ihm zu, und sie lächelte wieder.
»Ist es nicht wie in einem Backofen?«
Damit war der Friede zwischen ihnen geschlossen. Die alberne, banale Bemerkung, die die beruhigende Atmosphäre des Clubgeplauders mit sich brachte, hatte sie besänftigt wie ein Zauberspruch. Flo, die hinter ihnen zurückgeblieben war, kam hechelnd und sabbernd hinter ihnen her; im nächsten Augenblick unterhielten sie sich ganz wie sonst über Hunde. Während des restlichen Heimwegs sprachen sie fast pausenlos über Hunde. Hunde sind ein unerschöpfliches Thema. Hunde, Hunde! dachte Flory, während sie den heißen Abhang hinaufstiegen und die aufsteigende Sonne wie ein Feueratem durch ihre dünnen Kleider hindurch ihre Schultern versengte - würden sie denn nie über etwas anderes als Hunde reden? Oder wenn nicht über Hunde, dann über Grammophonplatten und Tennisschläger? Und doch, wenn sie sich an solcherlei Quatsch hielten - wie leicht, wie freundschaftlich konnten sie dann miteinander plaudern!
Sie gingen an der glit zernden weißen Mauer des Friedhofs vorbei und kamen an das Lackersteensche Tor. Zur Seite des Tores wuchsen
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