Ostfriesenblut
sie in den Arm. Auch wenn er es noch nicht ganz glauben konnte, seit gestern waren sie doch irgendwie ein Paar. »Wie war er? Willst du mir von ihm erzählen?«
»Wie war er?«, lachte sie fast ein bisschen verlegen. »Er war ein Stehaufmännchen.«
Weller sah sie verständnislos an. »Ein was?«
»Ein Stehaufmännchen.«
Weller drückte sie fester an sich und streichelte über ihr Gesicht.
»Wenn es stimmt«, sagte sie, »dass sich das ganze Meer in einem Wassertropfen zeigt … und wenn sich die ganze Erde wirklich in einem Sandkorn spiegelt … dann … «
Ihr fiel auf, wie oft ihr untreuer Ehemann Hero diese Sätze gesagt hatte. Aus seinem Mund hatten sie immer verlogen geklungen, und sie schämte sich fast, sie jetzt selbst zu gebrauchen.
Weller kannte diese esoterischen Sprüche und fuhr fort: »Ja, dann ist in einem Abfalleimer unsere komplette Zivilisation enthalten. Ich weiß.«
»Ja gut. Vielleicht hast du recht, Frank. Aber nehmen wir einmal an, es wäre richtig. Dann gibt es einen Vorfall, der illustriert, wie mein Vater war.«
»Erzähl es mir. So viel Zeit muss sein.«
»Einmal, auf einer Geburtstagsparty, brach mein Vater zusammen. Es war ein Herzinfarkt. Unter den Gästen war sogar ein Arzt. Der stellte Papas Tod fest. Ich saß wie gelähmt im Wohnzimmer und dachte immer nur, das kann nicht sein, das kann nicht sein. Ein paar Freunde teilten schon seine wertvollsten Angelsachen untereinander auf. Ich glaube, sogar ein Bestattungsunternehmer war bereits erschienen.
Sie hoben meinen Vater vom Boden auf und trugen ihn zunächst hoch ins Schlafzimmer. Er lag auf dem Bett. Ich saß davor und sah ihn an. Ich wagte nicht, ihn zu berühren. Ich hörte
die Stimmen der anderen unten, aber ich wollte ihn nicht alleine lassen. – Ich begann einfach, mit meinem toten Vater zu reden. Und dann … « Sie stockte. Ihr Blick bekam etwas Entrücktes, so als würde sie die Szene noch einmal erleben. Sie sprach mit einer Kinderstimme weiter.
So muss sie damals geklungen haben, dachte Weller, als sie ein kleines Mädchen war.
» … und dann, dann wurde er einfach wieder wach. Ja. Ich saß da und sah, wie er seine Augen öffnete. Er guckte mich an und fragte, ob noch was von den Bratkartoffeln da sei. Ich lief runter zu den anderen und sagte ihnen,
Papa möchte Bratkartoffeln
. Kannst du dir vorstellen, wie die reagiert haben? So war er …
An meinem ersten Schultag schenkte er mir dann so ein Stehaufmännchen. Es stand ewig in meinem Zimmer und wenn ich schlechte Noten geschrieben hatte oder mich andere Probleme quälten, dann tippte ich es mit dem Finger an, bog den Kopf bis herunter auf den Boden, und sah dabei zu, wie das Stehaufmännchen wieder hochwippte. Ich sehe ihn noch vor mir. Immer, wenn er mein Zimmer betrat, um mir einen Gutenachtkuss zu geben, stieß er das Stehaufmännchen an. Es ist keine Schande, zu Boden zu gehen, hat er mir beigebracht, aber es ist eine Schande, liegen zu bleiben.«
Arm in Arm gingen sie die Holztreppe hinunter, und Weller spürte ehrliche Trauer darüber, dass er ihren Vater nie kennengelernt hatte.
»Dein Vater«, sagte er, »hat versucht, dich groß und stark zu machen. Meiner wollte mich immer nur deckeln und klein halten. Er tat so, als wollte er nur mein Bestes. Aber in Wirklichkeit hatte er immer nur Angst, ich könnte ihn überrunden.«
»Er hat sich zu dir in Konkurrenz gesetzt?«
Weller nickte. »Ja. Und ich fürchte, er hat gewonnen.«
Gemeinsam fuhren sie nach Oldenburg in den Auenweg 11 .
Weller saß am Steuer seines elf Jahre alten Mondeo. Auch jetzt verkniff er sich das Rauchen. Er wusste, dass Ann Kathrin vor vielen Jahren aufgehört hatte, und er wollte ihre aufkeimende Beziehung jetzt nicht mit einer Diskussion über Passivrauchen belasten.
Sie sprachen nicht viel, aber es entstand keine Peinlichkeit zwischen ihnen. Erst jetzt merkte Ann Kathrin, wie oft sie beim Fahren mit ihrem Mann versucht hatte, krampfhaft ein Gespräch anzufangen, damit ja keine Stille entstand. Mit Frank, dachte sie, kann ich auch einfach so ruhig dasitzen, und trotzdem ist alles gut. Sie fragte sich, ob sie echt dabei war, sich neu zu verlieben. Etwas an dem Gedanken erheiterte sie.
»Unsere Kollegen«, sagte sie, »müssen ja nichts davon wissen.« Weller grinste und schaltete in den fünften Gang. »Die sind bei der Kripo. Die sollen es selbst herausfinden.«
Die Oldenburger Kollegen waren schon da und hatten vom Schwiegersohn einen Türschlüssel besorgt. Sie
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