Ostfriesenblut
hatten genug zu tun und waren froh, Ann Kathrin Klaasen und Weller in der Wohnung allein lassen zu können.
Es war eine Vier-Zimmer-Eigentumswohnung im zweiten Stock. Die Wohnung war sauber und ordentlich hinterlassen, als sei gerade eine Putzfrau hier gewesen. Solche Wohnungen machten Ann Kathrin Klaasen immer ein bisschen nervös, beziehungsweise hegte sie gleich den Verdacht, dass hier Spuren beseitigt worden waren. Sie überprüfte die Blumen auf den Fensterbänken an der Südseite. Die Erde in den Töpfen war trocken.
Wenn in der Abwesenheit der alten Dame eine Putzfrau die Wohnung auf Vordermann gebracht hat, dann hätte die sicherlich auch die Blumen gegossen, dachte Ann Kathrin, und ihr Verdacht, hier habe nur jemand Spuren beseitigen wollen, bekam neue Nahrung.
Die Teppiche am Boden waren alt und an einigen Stellen schon ein wenig durchgelaufen. Aber Ann Kathrin vermutete, dass es teure, handgewebte Ware aus Tunesien oder Marokko war.
Sie hatte einmal einen Teppichhändler gejagt, der sich an kleinen Kindern vergangen und außerdem eine Reihe von betrügerischen Konkursen hinter sich hatte. Seitdem wusste sie einiges über Originale, Fälschungen, Fabrikware und Kinderarbeit.
An den Wänden drei Ölgemälde, alle von Ruth Schmidt-Stockhausen, der Grande Dame der ostfriesischen Kunstszene. Alle zeigten das Meer. Mal wild, mal still.
In einer mindestens hundert Jahre alten Glasvitrine stand ein ostfriesisches Teeservice, auf der Glasplatte darunter sechs edle Weingläser in Buntglas. Ann Kathrin kannte das noch von ihrer Mutter, die nannte diese Gläser
Römer
und sammelte sie. Jeweils an Weihnachten bekam sie ein neues Glas. Nie hätte ihre Mutter diese Weingläser in die Spülmaschine gestellt. Sie kamen nur zu besonderen Anlässen auf den Tisch und wurden natürlich immer mit der Hand abgewaschen.
Die Möbel in der Wohnung hätten jedem Antiquitätenladen alle Ehre gemacht. Ann Kathrin Klaasen vermutete, dass es alte Erbstücke waren, die Frau Orthner sorgfältig hatte aufbereiten lassen. Handgehäkelte Deckchen fielen ihr auf und eine moderne Einbauküche.
Eine Wand im Wohnzimmer bestand praktisch nur aus Buchregalen. Frau Orthner war wohl lange Mitglied im Bertelsmann-Lesering gewesen und hatte alle Vorschlagsbände gesammelt. Tolstoi stand neben Hans Fallada und Dostojewski. Dann die gesammelten Werke von Louis Bromfield.
»Arm war die gute Dame nicht«, sagte Weller.
Hier, allein mit Weller in dieser fremden Wohnung, entstand eine merkwürdige Intimität zwischen Ann Kathrin und ihrem neuen Liebhaber. Am Buchregal berührte sie sanft sein Gesicht
und streichelte seinen Bart. Er schluckte und sah ein bisschen verlegen aus. Kamen ihm schon Zweifel?
»Wir haben beide eine harte Trennung hinter uns«, sagte er. »Ich will dir nichts vormachen. Meine Ex hat mich ganz schön fertiggemacht. Mir bleiben 950 Euro im Monat. Der Rest geht drauf für Unterhalt und für die Kinder. Den meisten Studenten geht es besser als mir, die können wenigstens was nebenbei verdienen.«
Sie spürte seine Verletztheit und drückte sich einmal kurz an ihn. Wahrscheinlich wollte er ihr damit nur sagen, dass er noch lange nicht bereit war für eine intensivere Beziehung oder Bindung. Aber warum, dachte sie, ist er dann die ganze Zeit hinter mir her? Ging es nur darum, mich einmal ins Bett zu kriegen? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Da gab es leichtere Eroberungen als sie, und so, wie es gestern mit ihnen gewesen war, erinnerte sie das sehr an den Anfang zwischen ihr und Hero. All das wollte sie sagen, doch dann erschien es ihr zu aufgesetzt, und sie betonte: »Es ist, was es ist, Frank. Lass es uns langsam angehen.«
Weller lächelte ein bisschen resigniert und zuckte mit den Schultern. »Man muss das Blatt spielen, das man in die Hand bekommt. Man kann nicht immer nur jammern und auf bessere Karten warten.«
Sie lächelte ihn an. Es amüsierte sie, dass der alte Skatspieler sich immer wieder auf Spielerweisheiten zurückzog.
Als Ralf Kühlberg plötzlich im Wohnzimmer stand, fuhren Ann Kathrin und Weller auseinander wie zwei Teenies, die von ihren Eltern erwischt wurden. Kühlberg war aber viel zu aufgeregt, um sich darüber zu wundern.
Er hatte einen Kugelbauch, schütteres Haar und einen schlaffen Händedruck. Es war, als würde sie ein Stück totes Fleisch in die Hand nehmen. Seine Schultern hingen herab wie sein
Doppelkinn. Der Beerdigungsanzug war ihm mindestens eine Nummer zu klein. Auf der
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