Ostfriesenblut
davon hatte. Aber er trägt die politische Verantwortung und er muss dafür sorgen, dass seine Behörde gut arbeitet. Wenn seine Leute aber wirklich gut gearbeitet haben, dann steht er in der Öffentlichkeit toll da und wird wiedergewählt. Kapiert?«
Beleidigt sah Rupert auf seine Fußspitzen. Ubbo Heide ging
ihm mit seinen Belehrungen genauso auf den Wecker wie Ann Kathrin Klaasen und Rieke Gersema.
»Zurück zum Fall«, sagte Ann Kathrin sachlich. »Bei allen hunderteinundachtzig Männern muss der Zugriff zeitgleich erfolgen. Wir brauchen vor Ort jeweils eine SEK -Einheit. Unser Täter hat schon mehrmals gemordet. Es wird ihm kaum Gewissensbisse bereiten, auf unsere Beamten zu schießen.«
Rupert unterbrach sie: »Von einer Schusswaffe wissen wir nichts.«
Ohne auf den Einwand einzugehen, fuhr sie fort: »Wir brauchen überall ein mobiles Einsatzkommando und alle müssen punktgenau zeitgleich zuschlagen. Es darf nirgendwo früher oder später erfolgen. Falls sie doch vernetzt sind und wir es nicht mit einem Einzeltäter zu tun haben, warnen sie sich sonst untereinander. Und selbst wenn er die Morde alleine begangen hat, wer weiß, ob er die anderen nicht informiert, Helfershelfer unter ihnen hat, mit seiner Tat angibt … Ich könnte mir vorstellen, dass er in bestimmten Kreisen echte Fans hat.«
Das sprach Weller richtig aus der Seele. »Ja«, sagte er, »das glaube ich allerdings auch. Es wird eine Menge Leute geben, die glauben, dass er diese Schwarzen Pädagogen nur ihrer gerechten Strafe zugeführt hat. Sozusagen im Rahmen ihres eigenen Systems.«
»Ich glaube allerdings«, sagte Ann Kathrin, »dass er ganz hier in der Nähe wohnt. In Ostfriesland.«
»Woraus schließt du das?«, fragte Ubbo Heide. Er war übel gelaunt und gereizt. Er bemühte sich, das nicht an seinen Kollegen auszulassen, aber es war einfach so. Er spürte, dass es ihm misslang.
Ich brauche Urlaub, dachte er.
Ann Kathrin ging auf und ab, wie bei einem Verhör. So konnte sie am besten nachdenken. Sie war darauf konditioniert. Es war wie ein Ritual, das sie zur Höchstform auflaufen ließ.
Drei Schritte vor, Kehrtwendung, drei Schritte zurück, Kehrtwendung. Nach jedem zweiten Schritt einen Blick auf ihren Gesprächspartner.
»Die ersten Morde liegen lange zurück. Zwischen ihnen liegt fast immer ein Jahr. Jetzt, hier in Ostfriesland, kommt es Schlag auf Schlag.«
»Er steht auf Ostfriesenblut«, sagte Rupert und beschloss, ab jetzt für eine Weile das Maul zu halten, weil seine Gags heute überhaupt nicht ankamen. Irgendwie war das nicht sein Tag. Obwohl er die Tagebücher gefunden hatte, kam er sich jetzt vor wie ein Versager. Es war Ann Kathrins Show. Er hätte sie ihr zu gern gestohlen, doch er wusste nicht, wie.
»Er hat viele Jahre, ja Jahrzehnte nichts getan. Hat an seinen Verletzungen und Demütigungen gelitten. Er wird es nicht ganz leicht gehabt haben, ein normales Verhältnis zum anderen Geschlecht aufzubauen. Selbst wenn er gleichgeschlechtlich gepolt ist, wird es für ihn schwierig gewesen sein. Er ist unter einer extrem sexualfeindlichen Erziehung groß geworden. Wir haben keine Ahnung, wie er damit umgegangen ist. Aber irgendwann in 2005 hat er angefangen zu morden. Er begann zunächst weit weg von Ostfriesland.«
»Und daraus folgerst du, dass er hier wohnt?«, hakte Ubbo Heide bissig nach.
Ann Kathrin nickte. »Nicht nur daraus. Ich glaube, dass er hier den Anstoß für seine Taten bekommen hat. Ich stelle mir einen schönen Tag in Greetsiel vor. Er geht am Hafen spazieren, holt sich ein Eis, vielleicht ein Krabbenbrötchen, genießt die Sonne und schaut den Touristenmädchen hinterher. Dann plötzlich sieht er in der fröhlichen Menge, die am Hafen entlangschlendert, ein altbekanntes Gesicht: Heinrich Jansen. Es ist wie ein Schock für ihn. Die Geister der Vergangenheit werden sofort wieder lebendig. Vielleicht war Jansen sogar mit einem Zivildienstleistenden unterwegs oder mit einer Betreuerin. Da
hat es bei unserem Täter Klick gemacht. Ich nehme an, er ist Heinrich Jansen zur Seniorenresidenz gefolgt und wusste dann, wo er wohnte. Zunächst hat er wahrscheinlich mit dem Gedanken gespielt, ihn umzubringen. Doch dann wurde ihm klar, dass Heinrich Jansen nichts war ohne seine Helfer. Er hat sich ein bisschen Mühe gegeben, und über Einwohnermeldeämter, über die Telekom und das Internet fand er alle seine ehemaligen Peiniger. Und er beschloss, sie zu töten. Vielleicht in der Reihenfolge, wie sie ihn verletzt
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