Ostfriesenblut
wenigstens aufrecht kniete.
»Nein. So war es nicht. Woher wissen Sie das alles? Wer sind Sie?«
Er ging langsam auf sie zu. Er brachte sein Gesicht nah an ihres und flüsterte kaum hörbar: »Du sollst mir nicht widersprechen. Tu das nie wieder.«
Dann schlug er ihr mit seiner Faust in die Magengrube. Sie klappte zusammen wie ein Springmesser.
»Siehst du«, beklagte er sich bei Heinrich Jansen, »sie ist noch ganz das ungehörige Mädchen. Gibt Widerworte und ist in der Leugnung. Sie sieht nicht ein, was sie getan hat. Sie ist im Stolz statt in der Demut. Wir müssen sie erziehen. Komm. Sei du mein Lehrer. Wie immer. Sag mir, was ich mit ihr machen soll, damit aus ihr ein gutes Mädchen wird.«
»Kann ich … kann ich noch was zu trinken bekommen?«, fragte Heinrich Jansen mit brüchiger Stimme.
»Aber klar doch.« Er brachte die Karaffe mit großzügiger Geste an die Lippen von Jansen. Der trank gierig. Seine Hände blieben dabei weiterhin an den Stuhl gefesselt, ebenso wie seine Füße.
»Wie soll die Erziehung beginnen? Sag’s mir. Du bist der Meister!«
Aus fiebrigen Augen sah Heinrich Jansen seinen ehemaligen Schutzbefohlenen an. Er versuchte in seinen Augen zu lesen, welche Antwort er gerne von ihm hören wollte. Aber er wusste es nicht.
»Jetzt versuchst du, meine Gedanken zu lesen, stimmt’s? Das habe ich auch immer gemacht. Ich hab dich angeschaut und versucht herauszufinden, was du von mir möchtest. Ich habe vorausschauend geplant, um dir die Dinge recht zu machen, bevor du sie überhaupt von mir verlangt hast. Ich wollte nur richtige Antworten geben.« Er schlug dem alten Mann mit der flachen Hand ins Gesicht. »Aber es ist mir leider nicht immer gelungen.«
Er hatte beschlossen, Jansen nicht mehr mit der Faust zu schlagen. Er wollte, dass er bei Bewusstsein blieb.
»Na los, sag schon. Was macht man als Erstes mit so einem Menschen, der erzogen werden soll?«
Heinrich Jansen öffnete den Mund, doch es kamen nur gurgelnde Laute und ein paar Speichelblasen über seine Lippen.
»Okay, wenn du es vergessen hast, dann werde ich es dir
sagen. Als Erstes werden ihm die Haare abgeschnitten! Lange Haare sind das stolze Symbol der Individualität. Sie müssen weg, weg, weg! Alle sollen gleich aussehen! Mit den Haaren schneiden wir auch die Individualität weg.«
Susanne Möninghoff rutschte auf den Knien über den Boden, bis hin zur Wand. Sie drückte sich fest mit dem Rücken gegen die Mauer, als ob sie die Hoffnung hegen würde, die Wand könne nachgeben, und dahinter sei eine andere, gute, saubere, freundliche Wirklichkeit verborgen, in die sie abtauchen könnte. Sie wollte sich auf keinen Fall die Haare abschneiden lassen. Lieber hätte sie noch ein paar Faustschläge eingesteckt. Wenn er ihr die Haare abrasierte … dann … Das hatte so etwas Endgültiges.
»Ich habe keine Schere«, grinste er und zog sein finnisches Jagdmesser. Langsam ging er auf Susanne Möninghoff zu. Er genoss jeden Schritt. Dann drehte er sich zu Heinrich Jansen um.
»Weißt du noch, womit du uns die Haare geschnitten hast? Mit deinem Rasiermesser. Nicht mit irgend so einem scheißmodernen Rasierapparat. Nein. Das war noch ein richtiges Rasiermesser. Mit einer Klinge, die du an einem Lederriemen geschärft hast. Ich werde dieses Geräusch nie vergessen. Flapp. Flapp. Flapp. Ich hatte Angst vor der scharfen Klinge, aber noch viel mehr Angst vor der stumpfen, denn das tat wirklich weh.«
Er griff Susanne Möninghoff in die Haare und riss ihren Kopf nah zu sich heran, sodass er ihr Gesicht gegen seinen Oberschenkel pressen konnte.
»Du musst keine Angst haben. Diese Klinge ist scharf.«
Dann setzte er das Messer über ihrem rechten Ohr an und zog es langsam zu ihren Schläfen hoch.
Susanne Möninghoff konnte es nicht ertragen, wenn jemand über Styropor kratzte. Selbst Kreide auf einer Tafel jagte ihr Schauer den Rücken hinunter. Doch ein schlimmeres Geräusch
als dieses hatte sie noch nie in ihrem Leben gehört. Und es war ganz nah an ihrem Ohr.
In einer genau abgestimmten Aktion stürmten schwerbewaffnete Polizeikräfte in den sechs Bundesländern Niedersachsen, Bremen, Nordrhein-Westfalen, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin hunderteinundsiebzig Wohnungen. Neun Adressen konnten in der Kürze der Zeit nicht ermittelt werden, da einige seit Jahren im Ausland lebten. Einer angeblich in einem buddhistischen Kloster in Indien. Zwei waren recht erfolgreich als Geschäftsleute in den Vereinigten Staaten.
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