Paladin Project. Renn um dein Leben (German Edition)
deren Nähten eine fettige Flüssigkeit tropfte. Aber das Seltsamste war, dass er sie nicht finster musterte – er schaute sie überhaupt nicht an.
»Hey, Lyle, wie läuft's denn so?«, rief Nick.
Lyle hielt inne und drehte sich um. Er schien die beiden kaum zu bemerken, ging in sein Büro, schloss leise die Tür hinter sich und verriegelte sie.
»Was ist denn mit Onkel Fester los?«, wunderte Nick sich.
»Da bin ich überfragt«, meinte Will. »Sieht aus, als hätte er ’ne Grippe. Lass uns verschwinden und mit Ajay reden. Wir haben eine lange Nacht vor uns.«
»Ich hole uns was zu essen«, rief Nick und marschierte zum Ausgang. »Chinesisch?«
»Ja, gern.« Will nickte und stieg dann die Treppe hinauf.
USB-STICK
Es war halb sechs, als Will in die Wohnung kam. Ajay saß am Tisch und verschlang sein Müsli. Will erzählte ihm von seiner Vermutung, dass Todd und die anderen älteren Schüler des Crosslauf-Teams wahrscheinlich die Ritter waren, und auch von der Entdeckung, die Nick und er gerade eben in Lyles Schrank gemacht hatten.
»Was ist in diesen Behältern?«, fragte Ajay.
»Ich denke, es sind noch mehr von diesen … na, du weißt schon«, erwiderte Will, plötzlich verunsichert.
»Monstern?« Ajays Augen weiteten sich. »Weißt du, Will, ich möchte ja gern alles glauben, was du uns erzählt hast, aber du bist bis jetzt der Einzige, der sie gesehen hat.«
»Wenn du Glück hast, ändert sich das auch nicht«, entgegnete Will.
»Tja, ich muss dir auch ein paar Sachen zeigen«, verkündete Ajay und trug seine Müslischale in die Küche. »Komm gleich zu mir rüber und bring dein Tablet mit.«
Will hastete in sein Zimmer. Auf dem Schreibtisch stand sein Tablet und zeigte als Bildschirmschoner das Schulwappen, das in einem blauen Feld schwebte. Abrupt hielt Will inne, als das Display plötzlich schwarz wurde und dann eine Kopie seines Zimmers zeigte. Ein junger Mann saß, mit dem Rücken zu Will, an seinem Schreibtisch und arbeitete am Tablet.
Die Figur drehte sich um: Wills vollständig entwickelte Syn-App – das gleiche Gesicht, die gleichen Haare und Klamotten, nur das Shirt war nicht blau, sondern hellgrau. Aber nachdem die Kopie Will gesehen hatte, nahm das Shirt ebenfalls eine blaue Tönung an.
Es war beinahe so, als würde er in den Spiegel schauen, aber nur beinahe: Die Figur hatte weniger scharf umrissene Züge, wie eine nicht ganz fertiggestellte Skizze. Computer-Will schaute Will in die Augen und lächelte, als habe er auf ihn gewartet.
Der Doppelgänger winkte ihm zu. Will zögerte, bevor er zurückwinkte. Er überlegte, ob er die Figur bitten sollte aufzustehen. Denn Will war so beeindruckt von diesem unheimlichen Ding, dass er glaubte, die Syn-App müsse Platz machen, damit er an seinen echten Computer konnte. »Will« stand auf, trat vom Schreibtisch zurück und lächelte ihn in Erwartung der nächsten Anweisung freundlich an.
Hat er etwa gehört, was ich gedacht habe?
»Okay, das ist ein bisschen unheimlich«, sagte Will. »Herunterfahren.«
»Möchtest du, dass ich einen Sicherheitscheck durchführe, Will?«, fragte »Will«, in einer gespenstisch echten Imitation seiner Stimme.
»Nicht jetzt …«
»Ich empfehle dringend …«
»Ich sagte, nicht jetzt . Herunterfahren!«
»Will« schnippte mit den Fingern und der Bildschirm wurde schwarz, die Stützen fuhren sich in den Rahmen ein und der Computer legte sich flach auf den Tisch. Misstrauisch hob Will das Gerät an. Wie eine tickende Zeitbombe streckte er es von sich, während er zu Ajays Zimmer lief. Will klopfte hastig und hörte dann, wie Ajay die Sicherheitsschlösser entriegelte und die Tür öffnete.
»Komm schnell rein«, bat Ajay. Dann schloss er hinter Will die Tür und bemerkte, wie vorsichtig Will sein Tablet hielt. »Ich nehme an, dein Doppelgänger ist endlich angekommen.«
»Das Ding macht mir Angst.«
»Absolut natürliche Reaktion. Ich hab es anfangs mit meinem nicht einmal im selben Zimmer ausgehalten. Stell dein Tablet neben meins auf den Tisch. Wir werden es brauchen.«
Will schaute sich um. Hauchdünne, durchsichtige Stoffbahnen hingen von der Decke und auf dem Boden lagen dicke weiche Kissen. Eine animierte Darstellung des Periodensystems, auf dem Moleküle einander gemächlich umkreisten, befand sich an einer der Wände. Der Schreibtisch stand unter einer hängenden Pyramide, die mit leuchtend rotem Satin bezogen war. Und über dem Wandregal, hinter dem Schreibtisch, hing ein Banner mit folgender
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