Paladin Project. Renn um dein Leben (German Edition)
damit verbundene Leben hatte. Doch jetzt, ohne dass er darum gebeten hätte, war plötzlich eine Tür zu dieser erstaunlich besseren Welt aufgegangen.
Was wäre, wenn das Center tatsächlich ein Ort war, an dem er endlich er selbst sein konnte?
Sein Handy klingelte einmal kurz. Eine SMS von Dad: BIN IM AUTO. SCHLECHTER EMPFANG. GEGEN SECHS ZU HAUSE. REDEN DANN.
Will warf einen Blick auf die Uhr und stellte schockiert fest, dass bereits der halbe Nachmittag vergangen war. Er hatte sich stundenlang mit den Infos über das Center beschäftigt. »Belinda« würde bald von der Arbeit nach Hause kommen und er wollte erst dann wieder im selben Raum mit ihr sein, wenn auch Dad da war.
Ich muss herausfinden, was Dad denkt. Dann werden wir gemeinsam entscheiden, was zu tun ist .
In der Küche schmierte er sich ein Sandwich mit Erdnussbutter und Marmelade und verschlang es regelrecht, während er rastlos durch das Haus streifte. Er betrachtete die dürftigen Besitztümer, die sie in vierzehn Jahren von Stadt zu Stadt mitgeschleppt hatten. Sie besaßen einen kleinen Fernseher, schauten aber selten etwas anderes als die Nachrichten. In ihrer Freizeit lasen sie hauptsächlich. An allen Wänden im Haus standen Regale, voll mit wissenschaftlichen, medizinischen und juristischen Fachbüchern.
Nr. 82: OHNE EIN GEISTIGES LEBEN LEBT MAN EIN GEISTLOSES LEBEN.
Sein Blick blieb an einem Regalbrett mit Familienfotos hängen. Er nahm ein Bild seiner Eltern an ihrem Hochzeitstag in die Hand, auf dem sie lachten und sich gegenseitig mit Kuchen fütterten. Belinda hatte ein gerafftes Samtkleid an und eingeflochtene Bänder in ihrem langen schwarzen Haar. Dad trug einen weinroten Samtsmoking, eine bescheuerte Frisur und einen struppigen Bart.
Glücklich, fröhlich, sorglos. Will hatte immer eine besondere Verbindung zu diesem Bild gehabt, weil er den Beginn seines eigenen Lebens in diesem Augenblick erkennen konnte, als wäre sein Geist schon dort und würde unsichtbar über allem schweben: als Funke in den Augen seiner Eltern.
Er dachte an »Belindas« Augen, als ihre Sonnenbrille heruntergerutscht war – leblos und leer –, und verglich sie mit der strahlenden Frau auf dem Foto. Das war es: Ihre Seele fehlte.
Was haben sie mit ihr gemacht? Würden sie versuchen, ihm das Gleiche anzutun?
Will hörte, wie eine Autotür ins Schloss fiel, und spähte vorsichtig aus dem Fenster. Drei schwarze Limousinen hatten vor dem Haus angehalten. Männer mit schwarzen Kappen und Jacken kamen auf die Eingangstür zu. Einer von ihnen, ein Mann mit Glatze, zeigte nach links und rechts und gab Anweisungen.
Wills Brust zog sich zusammen und die Luft im Raum schien schlagartig knapp zu werden: LAUF, WILL. Er flüchtete durch die Hintertür nach draußen, sprang über den Zaun und lief in Richtung Norden. Überrascht flatterte die kleine Amsel vom Zaun auf und in den nächsten Baum. Noch etwas über zwei Stunden, bis Dad nach Hause kam.
Dad wird wissen, was zu tun ist.
Der Mann mit der Glatze lief zur Seite des Hauses, schaute durch ein Fernglas und erhaschte gerade noch einen Blick auf Will, als der über eine Anhöhe verschwand und auf die Berge zurannte. Er befahl den anderen zurückzubleiben und sprach in das Mikro an seinem Handgelenk: »Er ist auf der Brandschneise nach Norden unterwegs.«
»Ist er Erwacht?«
»Schwer zu sagen«, meinte der Kahlkopf. »Aber wir dürfen kein Risiko eingehen. Bringt mir den Schnitzer.«
DER PROWLER
Will erreichte den Pfad hinter dem letzten Haus am Ende der Straße und folgte ihm einen Hang hinauf bis zu einem verschlossenen Tor, hinter dem die Brandschneise begann. Er schlüpfte durch eine Lücke zwischen zwei Pfosten und lief bergauf. Die Sonne stand schon tief im Westen und tauchte die Hänge über ihm in ein pulsierendes, kristallklares Licht.
Luft pumpte durch Wills Lungen, als er den steilen Serpentinen am Hang des Canyons folgte. An einem Bergkamm wurde die Straße eben und flach, bevor sie erneut anstieg, gesäumt von dichten Dornenbüschen und Brombeerhecken. Das grelle Sonnenlicht um ihn herum wurde allmählicher schwächer und ging in die Abenddämmerung über. Will blieb stehen und schaute sich um. Weiter unten am Berg sah er einen merkwürdigen Lichtkreis, als würden dort die letzten Strahlen der Sonne durch eine riesige Lupe fallen. Das Licht war derart gleißend hell, dass er fast glaubte, die Büsche müssten jeden Moment in Flammen aufgehen.
Der merkwürdigste Tag meines Lebens, dachte er.
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