Passwort: Henrietta
keine andere Wahl. Sie warf sich auf die Steine zwischen den beiden Gleisen, wusste, dass sie flach auf dem Boden liegen bleiben musste. Falls nicht, würde sie von der überhängenden Zugunterseite in zwei Teile zerschnitten.
Sie drehte den Kopf in die eine Richtung, starrte auf die schwarzen Steine und wartete. Sie atmete kaum noch.
Die beiden Züge tosten aneinander vorbei und nahmen sie ins Kreuzfeuer. Alles verdunkelte sich, Windböen zerrten an ihrem Gesicht. Das gewaltige Dröhnen der Motoren erfüllte ihren Körper, am liebsten hätte sie die Schultern eingezogen und sich die Ohren zugehalten. Aber sie musste reglos liegen bleiben.
Die Nahtstellen der Schienen neben ihr ächzten unter dem Druck der schweren Räder. Sie konzentrierte sich auf das Fahrgestell des Zugs, die Ansammlung von Eisenblöcken und gefurchten Leitungen, die nur Zentimeter vor ihrem Gesicht vorbeilärmten.
Bremsen quietschten, die Waggons zischten, bis die Züge endlich zum Stehen kamen. Harry zitterte. Die Motoren neben ihr rumorten noch wie zwei alte Lastwagen. Ihr Mund war trocken und mit Eisen- und Kohlestaub belegt.
Türen knallten. Leute schrien. Knirschend kamen Schritte auf sie zu.
»Großer Gott! Miss? Alles in Ordnung?«
Harry schloss die Augen. Keine gute Idee. Sie schlug sie wieder auf. Ihr Nacken fühlte sich klamm an, ihre Ohren dröhnten.
Um Himmels willen, sie konnte jetzt doch nicht ohnmächtig werden!
Starke Arme zogen sie auf die Beine, trugen sie halb über die Gleise. Weitere Hände bekamen sie zu fassen und hoben sie auf den Bahnsteig.
»Zurück! Macht doch Platz!«
»Ruft einen Krankenwagen!«
Langsam kam sie auf die Hände und Knie. So, auf allen vieren, blieb sie, schwankte, während allmählich das Blut in ihren Kopf sickerte. Neben ihr auf dem Boden lag ihre verbeulte Tasche. Jemand musste sie von den Gleisen aufgehoben haben. Sie fasste danach und strich mit den Fingern über das silberne DefCon-Logo.
Jemand legte ihr die Hand auf den Arm. »Alles in Ordnung? Wollten Sie … War es ein Unfall?«
Harry schluckte und musste an die Faust in ihrem Rücken denken, an die Worte, die ihr jemand ins Ohr geflüstert hatte, bevor sie gestürzt war.
Das Sorohan-Geld … Der Ring …
Sie zitterte.
»Ja«, sagte sie. »Es war nur ein Unfall.«
[home]
7
B ist du dir sicher, dass er das gesagt hat?«
Harry zitterte und schüttelte den Kopf. »Ich bin mir im Moment bei überhaupt nichts sicher.«
Sie schloss die Augen, rutschte auf dem Sitz in Dillons Wagen nach unten, ohne allzu sehr den Bezug zu versauen. Ihre Kleidung war mit Ruß und schwarzem Staub verschmiert, als wäre sie in die Kluft von einem Bergwerkskumpel geschlüpft.
Ihr Gesicht musste genauso aussehen. Ihr ganzer Körper tat weh, ihr rechtes Knie war auf die Größe einer Grapefruit angeschwollen.
Verstohlen betrachtete sie Dillons Profil. Seine Nase erinnerte sie immer an die von Julius Caesar, sie war kräftig, gerade und hatte einen hohen, aristokratischen Rücken. Er hatte gebräunte, fast so dunkle Haut wie sie, und seine eins dreiundachtzig Meter große Gestalt passte locker in den Fahrersitz seines Lexus.
»Also, erzähl’s mir noch mal«, sagte er. »Was genau hat dieser Typ gesagt?«
»Er hat es eigentlich nur geflüstert. Eine rauhe Stimme, wie Sandpapier.«
Dillon drehte sich ihr zu. Er hatte die Angewohnheit, die Lippen zu einer dünnen Linie zusammenzupressen und dabei einen Mundwinkel leicht nach oben zu verziehen, so dass es immer aussah, als würde er sich ein Lachen verkneifen. »Also gut, was hat er geflüstert?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher, aber ungefähr Folgendes: ›Das Sorohan-Geld, gib’s dem Ring zurück.‹«
»Und was soll das heißen?«
Harry zuckte mit den Schultern und vertiefte sich in ihre Handflächen. Die Stellen, an denen sich der Kies des Gleisbetts in die Haut gebohrt hatte, brannten.
»Mehr hat er nicht gesagt?«, fragte Dillon.
»Es war keine Zeit, noch mehr zu sagen. Ich bin runtergefallen, du erinnerst dich?«
»Ich kann es trotzdem kaum glauben, dass jemand versucht hat, dich vor einen Zug zu stoßen.«
»Geht mir ebenso. Ich bin mir auch nicht sicher, ob die Polizei mir geglaubt hat.«
Ein großer junger Polizeibeamter mit hüpfendem Adamsapfel war am Bahnhof eingetroffen und hatte sie befragt. Jemand hatte ihr eine kratzige Decke um die Schultern gelegt, und zwischen kurzen Schlucken von einem heißen, zuckersüßen Tee hatte sie ihre Geschichte erzählt. Alles, bis
Weitere Kostenlose Bücher