Passwort: Henrietta
auf die Worte, die sie kurz vor dem Fall vernommen hatte. Sie hatte sie vorerst für sich behalten wollen. Als dann Dillon angerufen und darauf bestanden hatte, sie abzuholen, war sie froh gewesen, dass jemand anderes die Sache in die Hand nahm.
Dillon riss am Steuer, um einem Fahrradfahrer auszuweichen. Harrys Magen machte einen Satz und brauchte eine Weile, bis er wieder Anschluss an die übrigen inneren Organe fand. Bislang war es eine ruppige Fahrt gewesen. Dillon drückte entweder ungehemmt aufs Gas oder stieg ebenso ungehemmt auf die Bremse, dazwischen gab es für ihn nichts. Jedenfalls schätzte sie sich glücklich, davon noch kein Schleudertrauma bekommen zu haben.
Sie arbeitete für Dillon mittlerweile seit knapp einem Jahr. Im vorangegangenen Sommer – sie war bei einem anderen Software-Unternehmen beschäftigt gewesen – hatte er einen Headhunter auf sie angesetzt und ihr mit derselben rastlosen Energie nachgestellt, mit der er alles anging. Es war das zweite Mal in sechzehn Jahren, dass sich ihre Wege gekreuzt hatten. Beim ersten Mal war sie erst dreizehn gewesen.
Das schien lange her. Sie lehnte sich gegen die Kopfstütze, schloss die Augen und sah sich selbst mit dreizehn Jahren vor sich: geballte Fäuste, wildes Haar, irgendwie in einem Doppelleben gefangen. Vielleicht hatte sie sich seitdem doch nicht so sehr verändert.
Früh in ihrer Kindheit war ihr klargeworden, dass sie auf die eine oder andere Art die Flucht ergreifen musste, wenn sie das Leben zu Hause überstehen wollte. Ihre Lösung bestand darin, zwei Leben zu leben: eines als das Mädchen, das sie Harry die Malocherin nannte und deren Mutter ihre Briefe öffnete und ihr Tagebuch las und deren Vater viel zu selten da war, um sie groß zu unterstützen; im anderen war sie Pirata, ein Mädchen, das an Schlaflosigkeit litt, im Dunkeln saß und durch den elektronischen Untergrund streifte, wo sie mächtig und angesehen war.
Das war in den späten Achtzigern gewesen, noch vor der Zeit des Internets. Pirata verbrachte ihre Zeit damit, sich über langsame Modemverbindungen in Mailboxen einzuwählen, Rechnersysteme für elektronische Nachrichten, auf denen die Teilnehmer Ideen austauschten und Hacker-Tools herunterluden. Als sie elf war, hatte sie sich selbst beigebracht, in so ziemlich jedes System einzudringen. Sie kam immer mühelos rein, klaute nie etwas, richtete niemals Schaden an. Im Alter von dreizehn war sie jedoch so weit, eine Grenze zu überschreiten.
Harry konnte sich noch gut an jene Nacht erinnern, in der sie sie überschritt. In ihrem Zimmer war es finster gewesen, das einzige Licht war das grünliche Glühen ihres Monitors. Es war zwei Uhr morgens, und ihr Computer war so programmiert, dass er ständig Nummern anwählte, bis er eine fand, die es ihm erlaubte, eine Verbindung herzustellen. Sie saß zusammengerollt auf ihrem Sessel, hatte, um sich zu wärmen, die Arme um die Knie geschlungen und lauschte auf das fiepsige Quäken des Modems, das laufend wählte und die Verbindung wieder trennte. Sie musste sich keine Sorgen machen, dass ihre Eltern sie so vorfinden könnten. Sie waren zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, um sich um sie zu kümmern.
Plötzlich war sie irgendwo drin. Das Gejaule des geschwätzigen Modems war unmissverständlich. Ein anderer Computer dort draußen hatte geantwortet. Sie setzte sich auf, tippte einen Befehl ein und bestätigte mit Enter. Fast augenblicklich spuckte der andere Computer eine Meldung aus, bei der sie die Hand vor den Mund schlug.
» ACHTUNG ! Sie melden sich am Computersystem der Dubliner Börse an. Unbefugter Zugriff ist verboten und kann strafrechtliche Folgen haben.«
Harry, die Füße untergeschlagen, kaute an ihren Fingernägeln. Das bedeutsamste Netzwerk, in das sie bislang eingedrungen war, war das der Universität Dublin gewesen. Mit der Sicherheit nahm man es dort nicht sonderlich genau, vor allem, weil keine vertraulichen Daten herumlagen. An der Börse aber musste es vor sensiblen Daten nur so wimmeln. Natürlich könnte sie die Verbindung einfach wieder trennen. Stattdessen schwang sie die Füße auf den Boden und schob ihren Sessel näher an die Tastatur.
Anhand des charakteristischen Username-Prompts wusste sie, dass es sich bei dem Betriebssystem um VMS handelte. Das war gut und schlecht. Einerseits konnte man, war man erst einmal eingeloggt, auf vielfältige Weise die systemeigenen Sicherheitsvorkehrungen umgehen. Andererseits würde es nicht einfach
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