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Passwort: Henrietta

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Titel: Passwort: Henrietta Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ava McCarthy
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knapp einen Meter unter ihr verliefen. Bereits bei dem Anblick stellten sich ihr die Zehennägel auf. Sie sah zur Anzeige: Dun Laoghaire, eine Minute.
    Wieder musste sie an das Treffen mit KWC denken. Scheiß auf Dillon und seine Küchenpsychologie.
    »Ich dachte, es könnte dir helfen, wenn du da hingehst«, hatte er ihr am Handy gesagt, während sie am Moos an der Kanalwand gezupft hatte. »Wenn du dich, du weißt schon, den Dingen stellst.«
    »Wenn du jetzt auch noch was von Katharsis faselst, werde ich laut schreien«, hatte sie entgegnet.
    »Komm schon, du redest nie über deinen Vater. Du hast ihn nicht mehr gesehen, seitdem er ins Gefängnis gekommen ist. Wie lang ist das her, fünf Jahre?«
    »Sechs.«
    »Eben, verstehst du? Du brauchst eine Katharsis.«
    Sie lachte. »Hör zu, ich weiß deine Anteilnahme zu schätzen, aber ich komm auf meine Art schon damit zurecht.«
    »Du meinst, du legst einen Deckel drauf und verbuddelst alles in der Erde?«
    »Vielleicht.« Sie schnipste ein samtiges Moosstück aufs Kanalufer. »Mein Vater kommt und geht, das war schon immer so in meinem Leben. Und jetzt ist er eben wieder fort. Keine große Sache.«
    »Ich lass den Pen-Test von jemand anderem machen.«
    »Nein, Dillon, ich mach ihn. Du hast mich nur auf dem falschen Fuß erwischt. Im Ernst, es geht mir gut.«
    Aber es war ihr nicht gutgegangen. Sie hatte sich reizbar und, schlimmer noch, kratzbürstig gegeben. Was bei ihr nicht so selten vorkam, sie war die Erste, die sich das eingestand, trotzdem hasste sie es, wenn sie sich so aufführte. Sie hatte versucht, es sich von der Seele zu laufen, hatte vor der Bahnstation beim IFSC umgedreht und war stattdessen am Liffey entlanggegangen. Nach zehn Minuten hatte sie es aufgegeben. Absätze, auch nicht ganz so hochhackige, waren für reinigende Power-Walks nicht geschaffen.
    Erneut sah sie zur Anzeige. Die Minute war rum. Ein Windstoß zerrte an ihrer Wange. Die Taube flatterte auf, als hätte sie soeben eine Katze gesehen. Fahrgäste drängten sich heran. Jemand presste sich an sie und katapultierte sie zehn Zentimeter nach vorn.
    »Hey!« Sie riss den Kopf herum, wurde aber ein zweites Mal nach vorn zur Bahnsteigkante gestoßen. Unten sah sie die schwarzen Gleise. Sie schloss die Augen, stemmte sich mit den Fersen in den Boden, ließ sich nach hinten fallen und trieb die Ellbogen in die Menge.
    »Hören Sie auf zu drängeln!«, schrie jemand hinter ihr.
    Heißer Atem, der ihr etwas ins Ohr flüsterte. Eine harte Faust traf sie im Rücken, und sie stürzte, schwerelos, nach vorn. Sie riss die Augen auf und war wie gebannt. Der Gleisstrang kam auf sie zugestürzt. Sie streckte die Hände aus und wappnete sich für den Aufprall.
    Sie knallte gegen den Boden. Scharfe Steine bohrten sich in ihre Handflächen, ihr Knie krachte gegen die Betonschwelle. Jemand kreischte.
    Sie hob den Kopf, starrte auf die gewundenen Gleise und war wie gelähmt. Die Schienen klackten.
    Los! Weg hier!
    Sie umfasste die Schienen und versuchte sich hochzuhieven. Ein stechender Schmerz fuhr ihr ins Knie, sie sackte ein und fiel quer über die Schienen.
    Die Gleise vibrierten. Eine Hupe ertönte. Sie riss den Kopf hoch. Der Zug röhrte um die Kurve, fuhr in den Bahnhof ein und blendete sie mit seinen Scheinwerfern. Schweiß brach ihr aus allen Poren.
    Harry ließ sich ganz zu Boden fallen, rollte sich weg, schrammte mit den Schultern über Eisen und Steine. Etwas riss sie zurück. Sie sah über die Schulter. Ihre Tasche hatte sich an einem Gleisbolzen verfangen. Der Zug donnerte auf sie zu. Sie schnellte den Riemen über den Kopf und warf sich von den Schienen.
    Mit dem Gesicht nach unten atmete sie den Geruch von Staub und Metall ein, mit den Fingern krallte sie sich in die Schienen der Linie in Gegenrichtung. Sie zitterte am ganzen Leib. Der erste Waggon dröhnte vorbei. Leute kreischten, riefen ihr zu, aber sie konnte sich nicht rühren. Noch nicht.
    Dann ein anderes Geräusch. Tick-tack, tick-tack. Die Schienen unter ihren Fingern sirrten. Sie zwang sich, die Augen zu öffnen, ihr Herzschlag raste. Ein weiterer Zug fuhr in den Bahnhof ein. Sie lag genau in seinem Weg.
    Der Schrei blieb ihr im Hals stecken. Keine Zeit. Kurz sah sie zum Bahnsteig für die Züge in nördliche Richtung. Sie würde es nie schaffen. Hinter ihr rumpelte der Zug nach Süden noch immer vorüber.
    Es gab keinen Ausweg.
    Sie versuchte, den Abstand zwischen den beiden Gleisen einzuschätzen. Kaum zwei Meter, aber ihr blieb

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