Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
fiel. Ihr stockte der Atem, und sie las vom Anfang der Seite an:
… wollte mir nicht glauben. Sie sagte, Opa war Kriegsveteran. Er hatte die Atlantikkonvois überlebt. Er hatte eine Messinglampe von den Eignern bekommen, als er in Rente ging. Du trägst seinen Vornamen. Du bist David George Bradshaw. Was konnte ich schon dazu sagen? Das stimmte alles, aber es hatte nichts mit dem zu tun, was ich herausgefunden hatte. Also sagte ich es meinem Vater. Er paffte weiter seine Pfeife. Nach einer Weile merkte ich, dass sein Hals rot war. Das war bei ihm immer so, wenn er wütend war oder Angst hatte. Gute zehn Minuten lang wusste ich nicht, was von beidem es war. Schließlich sagte er: »Hast du eine Ahnung, was du da sagst? Was das heißt?«
George Bradshaw. Der Mann aus dem Prozess. Nancy wurde beängstigend ruhig. Sie hatte sich hereinlegen lassen … etwas war vor ihrer Nase passiert, und sie wusste nicht, was. Aber das war es nicht, was ihr die Sprache verschlug. Nein, es war Mr. Johnson. Er war echt gewesen. Die Male, als sie zusammen am Feuer gesessen hatten, hatte er ihr nichts vorgespielt – das spürte sie genau. Sie hatte sich mit einem alten Herrn angefreundet, der seinen Sohn und sein halbes Gedächtnis verloren hatte. Der Mann mit der Schweißerbrille, der aus einem Pappkarton gestolpert war, war tatsächlich obdachlos: Das hatte sich in seine dunkelgraue Haut mit den asphaltschwarzen Flecken gefressen. Und trotzdem war er … dieser andere Mann, Bradshaw. In ihrem Kopf hämmerte es. Hastig blätterte sie die anderen Hefte durch, kam aber nicht weiter, bis sie an der Umschlaginnenseite von Heft 1 stockte: Da war es, eine Adresse in Mitcham.
Als die Haustür sich öffnete, hielt Nancy die Plastiktüte hoch, als ob sie eine Lieferung vom Supermarkt brächte. »Ihr Mann hat die in meinem Laden vergessen.«
Die Frau reagierte nicht. Sie war wie betäubt.
»Sind Sie Mrs. Bradshaw?«
Die Frau nickte und starrte auf die Tüte.
»Ich kenne George«, sagte Nancy ganz freundlich, obwohl sie am liebsten geheult und geschrien hätte. »Ich habe mich ein bisschen um ihn gekümmert.«
»Kommen Sie rein«, sagte Mrs. Emily Bradshaw. »Ich mache uns Tee.«
Was für ein schönes Haus, dachte Nancy. Es roch schwach nach frischer Farbe. Sämtliche Tapeten waren neu – teures Zeug … zartes Maisgelb mit silbernen Streifen, schnurgerade. Noch keine einzige abgestoßene Stelle. Bilder hingen dicht nebeneinander, und nicht eins war schief: eine Kathedrale, die aus Bäumen herausragte; eine Wiese mit Kühen an einem Fluss, jemand, der neben einer Windmühle betete, fliegende Enten. Die Sessel passten zum Sofa. Als Nancy sich setzte, spürte sie, dass der Bezug steif und die Polster fest waren. Ja, es war sehr hübsch und neu. Aber irgendetwas fehlte. Es klaffte ein riesiges Loch, das sich nicht aus dem Katalog hatte füllen, übertünchen oder verdecken lassen.
»Milch und Zucker?«
»Ein Tröpfchen Milch und zwei Stück Zucker.«
Es war so still wie im Wartezimmer beim Zahnarzt.
»Wie geht es ihm?«, fragte Mrs. Bradshaw automatisch.
»Nicht schlecht.«
»Ach.« Sie hielt den Kopf gesenkt und starrte auf ihren Becher.
»Na ja«, sagte Nancy, »er ist blind und trägt diese dicke Schweißerbrille, und er kann sich nicht mehr an viel erinnern, weil jemand ihm den Kopf eingeschlagen hat.«
So unverblümt hatte Nancy eigentlich nicht reden wollen. Sie hatte vorgehabt, ein paar nette Worte zu sagen, aber hier, als sie dieser Frau gegenübersaß, verzichtete sie auf jegliche Nettigkeit. Es erschien ihr gnädiger.
»Sein Gedächtnis funktioniert noch, wissen Sie«, sagte Nancy. Die Plastiktüte mit den Heften lag auf ihrem Schoß. »Er erzählt von der Zeit in Yorkshire, vom Bonnington Hotel, von Ihnen und von Ihrem Sohn. Das ist alles ganz klar und deutlich. Er erinnert sich an Ihre weiße Schürze … sogar an die Rüschen. Nur das, was vor kurzem passiert ist, kann er nicht mehr behalten. Einmal hat er gesagt, er wünschte, es wäre anders herum. Aber das hat er nicht so gemeint. Er ist ein Witzbold, ihr Mann.«
Nancy hatte mal im Fernsehen Weinverkoster gesehen, sie hatten genauso ausgesehen wie Mrs. Bradshaw jetzt: Sie runzelte konzentriert die Stirn und bewegte kaum merklich den Mund. Und gleich würde sie ausspucken.
»Was ist eigentlich passiert?«, fragte Nancy. Das hätte sie nicht fragen sollen, es war zu neugierig. Aber der Mann dieser Frau hatte sie trotz seines zermanschten Hirns
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