Patient Null
Bettkante nieder.
Sie stand da und starrte nachdenklich auf den Kater. Dann nahm sie einen Schluck Bier.
»Ich mag Ihren Freund Dr. Sanchez.«
»Rudy.«
»Rudy. Ich traf ihn vor den Duschen, und wir haben uns gegenseitig ein bisschen das Herz ausgeschüttet. Er ist ein guter Mann.«
»Sind Sie ein guter Menschenkenner?«
»Ich kenne den einen oder anderen Seelenklempner.« Sie wandte ihren Blick ab, aber ich konnte sehen, dass sie Tränen in den Augen hatte. Cobbler stand noch immer wartend neben ihr. Also beugte sie sich wieder zu ihm hinunter und kraulte ihn zwischen den Ohren. Dann setzte sie erneut die Flasche an die Lippen und trank sie in einem einzigen Schluck beinahe leer.
»Die letzten paar Tage sind so unwirklich gewesen«, sagte sie leise. »So gottlos …«
Grace schüttelte den Kopf und schniefte leise. Dann trank sie ihr Bier aus, und als sie die Flasche wieder absetzte, berührten sich unsere Hände. Sie wollte, dass es wie ein Zufall aussah, aber sie war keine gute Schauspielerin. Meine Haut kribbelte.
»Im Krankenhaus muss es fürchterlich gewesen sein«, sagte ich. »Ich hatte noch keine Zeit, um mir die Aufzeichnungen anzusehen, aber Rudy hat es angedeutet. Schlimmer als die Krebsfabrik, meinte er.«
Sie hatte sich wieder hingesetzt und musterte die Flasche, als ob auf dem Etikett etwas Interessantes stehen würde. Als sie antwortete, sprach sie so leise, dass es schwer war, sie zu verstehen. »Als wir merkten, dass … dass etwas im Gang war … Als wir merkten, dass die Situation außer Kontrolle geriet, dass St. Michael’s …« Sie hielt inne, schüttelte erneut den Kopf und setzte noch einmal an. »Als uns bewusst wurde, was wir tun mussten … Das war der schlimmste Augenblick meines Lebens. Schlimmer als …« Eine Träne lief ihr über die Wange.
»Hier ist noch ein Bier«, sagte ich leise und reichte ihr eine neue Flasche.
Sie nahm einen Schluck und warf mir dann einen Blick aus ihren rot umrandeten Augen zu. »Joe … Als ich achtzehn war, wurde ich schwanger. Von einem Jungen an der Uni, im ersten Jahr. Wir waren erst Kinder, verstehen Sie? Er hat die Nerven verloren und ist abgehauen. Aber dann kam er zurück, kurz vor dem Ende des ersten Jahres. Wir heirateten. Standesamtlich. Aber wir liebten einander nicht. Trotzdem blieb er bei mir, bis das Baby zur Welt kam. Brian Michael. Es … Es wurde mit einem Loch im Herzen geboren.«
Die Stille lastete wie ein Zentnergewicht auf mir.
»Man hat alles versucht. Insgesamt vier Operationen, aber das Herz war nicht richtig geformt. Brian überlebte drei Monate. Er habe keine Chance, hieß es damals. Nach der letzten Operation wich ich nicht mehr von seiner Seite, Tag oder Nacht. Ich wurde so dünn, dass ich wie ein Gespenst aussah. Ich wog nur noch dreiundvierzig Kilo. Man wollte mich in eine Klinik einliefern lassen.«
Ich wollte etwas sagen, aber sie gab mir ein Zeichen, sie nicht zu unterbrechen.
»Eines Nachmittags kam ein Arzt zu mir und erklärte, dass Brian keine Gehirnaktivität mehr zeigen würde und so gut wie tot sei. Man … Man wollte, dass … Ich sollte etwas unterschreiben, damit man das Beatmungsgerät abschalten konnte. Hatte ich eine Wahl? Ich fing zu schreien an, und dann stritt ich mich mit den Ärzten. Schließlich betete ich. Tagelang.« Tränen flossen in Strömen über ihre Wangen. Sie sahen fast wie Narben aus. »Als ich endlich zustimmte, war es furchtbar. Ich küsste mein Baby ein letztes Mal und hielt seine kleine Hand, während die Maschinen abgeschaltet wurden. Ich legte meinen Kopf auf seine Brust, um seinen Herzschlag zu hören – in der Hoffnung, dass es weiterschlagen würde. Aber es schlug nur ein einziges Mal. Nur einmal, das war alles. Er starb so schnell. Ein Schlag und dann diese fürchterliche Stille. Ich habe gespürt , wie er starb, Joe. Es war fürchterlich, absolut fürchterlich. Von jenem Augenblick an wusste ich, dass ich nie mehr etwas Schlimmeres erleben würde, erleben konnte .«
Sie trank einen weiteren Schluck Bier. »Es hat mich fast kaputtgemacht. Mein Mann verließ mich nach der zweiten Operation. Vermutlich hatte er Brian bereits abgeschrieben. Mit meinen Eltern hatte ich den Kontakt schon länger abgebrochen, so dass ich niemanden hatte, an den ich mich wenden konnte. Mir ging es täglich schlechter, bis ich in einer psychiatrischen Klinik landete. Insgesamt blieb ich dort drei Monate. Sind Sie jetzt schockiert?«
Sie sah mich trotzig an, aber etwas in meinem Gesicht
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