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Patient Null

Titel: Patient Null Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Maberry
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seltsam fanatisch.
    Sie zog ihn an sich und schlang die Arme um ihn. Eine Weile hielten sie einander fest, ohne sich von den PVC-Schutzanzügen ablenken zu lassen.
    »Ich liebe dich«, sagte sie.
    »Ich liebe dich auch«, antwortete er und meinte es.
    Wenn alles vorbei ist, muss ich dich allerdings vielleicht einem deiner Schnuckeltierchen hier zum Fraß vorwerfen, dachte er. Und meinte auch das.

22
    Balch, Afghanistan Fünf Tage zuvor

1.
    Balch im Norden Afghanistans war einstmals eine der bedeutendsten Städte der Antike gewesen. Heutzutage lebten dort noch über einhunderttausend Menschen, obwohl die Stadt mehr oder weniger dem Erdboden gleichgemacht worden war. Der alt-iranische Prophet Zarathustra zählte zu den berühmtesten Söhnen der Stadt, die über viele Jahrhunderte hinweg das Zentrum der von ihm gegründeten Religion war, dem Zoroastrismus. Inzwischen war sie zur Heimat von Armut und Verzweiflung degradiert worden – wie der Rest Afghanistans auch. Hier und da gab es Musik, bunte Farben und kindliches Gelächter von denjenigen, die noch zu jung waren, um das Schicksal zu erahnen, das sie erwartete.
    Nicht weit im Südosten lag die Ortschaft Bitar wie ein Adlerhorst mitten zwischen den scharfen Felsspitzen der Berge. Es gab eine einzige Straße, die sich den Berg hinaufwand, und eine noch schlechtere, die sich wieder bergab schlängelte. Kamele bewältigten den Weg, da sie eigensinnige Tiere sind, doch auch sie kamen immer wieder ins Stolpern. Bitar war die Heimat von sechsundachtzig Menschen, hauptsächlich Eltern, deren Söhne entweder bei Kämpfen für oder gegen die Taliban ums Leben gekommen waren oder die zur Arbeit in die Mohnfelder aufgebrochen waren, um nie wieder von dort zurückzukehren. Um in die Schule zu gehen, mussten die jüngeren Söhne über zehn Kilometer Fußmarsch bewältigen. Im ganzen Ort gab es nur dreißig Kamele, das Federvieh war mickrig und stand kurz vor dem Hungertod. Nur die Ziegen machten einen robusten Eindruck. Sie stammten von einer widerstandsfähigen Rasse, die mit wenig auskam. Das wenige Wasser,
das Menschen und Tieren zur Verfügung stand, stank unangenehm nach Urin und war nahezu ungenießbar salzig.
    Eqbal war sechzehn Jahre alt, und seine Eltern schätzten sich glücklich, ihn noch nicht durch den Krieg oder in den Mohnfeldern verloren zu haben. Eqbals von Allah vorherbestimmtes Schicksal war es, seiner Familie zu dienen. Er sollte Bauer werden. So würde er die alte Tradition aufrechterhalten und gleichzeitig für die Zukunft sorgen. Trotz des Krieges glaubte Eqbal an die Zukunft; für ihn war sie erfolgversprechend und rosig. Kriege vergingen, aber Afghanistan, gesegnet mit der Liebe Allahs, blieb für immer.
    Jeden Morgen stand er mit der Sonne auf, wusch sich und zog sich die weite Robe über, ehe er sich sein Kufi auf den Kopf stülpte, um für das Morgengebet bereit zu sein. Er betete genau so, wie es in der Salāt geschrieben stand: zuerst stehend, dann kniend und schließlich auf dem Boden liegend, so wie es der Größe und Gnade Gottes entspricht.
    Trotz seines unkomplizierten Glaubens und seines Entschlusses, das schlichte Leben eines Bauern in den unwirtlichen Bergen Nordafghanistans auf sich zu nehmen, war Eqbal weder engstirnig noch uninteressiert an dem, was um ihn herum passierte. Während er auf die Ziegen aufpasste oder tägliche Aufgaben verrichtete, war er stets in Gedanken versunken. Mal versuchte er sich in der Interpretation komplexer Passagen des Koran, oft aber auch grübelte er über weltliche Dinge, wie zum Beispiel die Bewältigung der Steißgeburt einer Ziege, ohne das Zicklein noch die Mutter in Gefahr zu bringen. Er mochte vielleicht nicht der Schnellste sein, aber er war auf jeden Fall tiefsinnig, und wenn er zu einem Entschluss kam, so war dieser meist zutreffend.
    Hätte Eqbal überlebt, wäre er wahrscheinlich Oberhaupt des Dorfes geworden. Sicherlich jedenfalls ein Mann, mit
dem zu rechnen war. Aber Eqbal überlebte nicht. Er würde seinen siebzehnten Geburtstag nicht erreichen, der in acht Tagen stattfinden sollte.
    »Eqbal!«, rief sein Vater, der sich wegen eines gebrochenem Fußknöchels nur schwer bewegen konnte. »Kommst du mit der Ziege voran?«
    Der junge Mann war über die trächtige Ziege gebeugt, die vor Schmerz immer wieder aufschrie. Eqbal fuhr mit der Hand tief in den Geburtskanal und versuchte, das Zicklein zu drehen. Die anderen Ziegen spürten die Nervosität der Mutter und fingen zu scharren und zu schnauben

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