Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille

Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille

Titel: Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
Vom Netzwerk:
modrig, nach feuchten Wänden und toten Mäusen. Sie griff sich zwei verschimmelte Stühle mit geflochtenen Sitzflächen, die längst durchgebrochen waren, und brachte sie nach oben. Warum das niemand verfeuert hatte? Ein alter Wäschekorb folgte, desgleichen ein großer Topf, die Emaille abgesprungen, in dem wahrscheinlich früher eingekocht worden war. Sie stapelte alles vorne am Gartentor, eigentlich hätte sie die Sperrmüllabfuhr vorher anrufen müssen, aber vielleicht gewährte man ihr ja gnädigerweise schon bald einen Termin.
    Als sie wieder unten im Keller stand, spürte sie ihre Lust erlahmen. Regale, voll mit Einmachgläsern, einige davon mit Inhalt. Zwei Kartoffelmieten, hoffentlich ohne Kartoffeln. Sie wußte zu gut, wie es sich anfühlte, wenn man in verrottete Kartoffeln griff. Schleimig und glitschig waren noch harmlose Begriffe für die haptische Katastrophe, an die sich ihre Finger erinnerten.
    Sie räumte eine defekte Stehlampe und einen demolierten weißen Plastikgartenstuhl an den Treppenaufgang. In die hinterste Ecke des Kellers traute sie sich nicht. Irgend etwas lag da, Teppiche, Decken, Säcke. Naß wahrscheinlich. Der ganze Keller war naß, es mußte hineingeregnet haben.
    Sophie schleppte Lampe und Plastikstuhl nach oben und ging ein letztes Mal nach unten, um zuzusperren. Die Tür klemmte. Sie zog, sie ruckelte. Dann ging sie wieder hinein in den Raum, um die Tür von innen zuzudrücken. Das Hindernis entpuppte sich als ein Holzsplitter, der sich unter die Tür geklemmt hatte. Als sie sich bückte, um ihn zu entfernen, sah sie es – und in diesem Moment war alles wieder da.
    Es stand hinter der Tür, das Ding, das die Erinnerung Welle um Welle hochsteigen ließ. Ein runder Vogelkäfig, vielleicht eineinhalb Meter hoch. Einst weiß lackiert, jetzt grau und schäbig. Als sie ihn zuletzt gesehen hatte, im Summer of Love, im August 1968, hing er an einem Haken vor dem Fenster und bewegte sich mit jeder kleinen Brise, die hereinwehte. Das Behältnis meiner Seele, hatte Sascha ihn genannt.
    Kiwitt, kiwitt, wat vör’n schöön Vagel bün ik …
    Sophie stand im Keller, fühlte sich hilflos und hätte fast geweint. Aber sie wollte nicht weinen. Der Käfig jedenfalls gehörte nicht auf den Sperrmüll. Sie wischte mit der Hand Mörtel und Spinnweben vom Gitter und bugsierte ihn die Treppe hoch. Er gehörte auch nicht in den Keller. Er gehörte in den ersten Stock.
    Sie ließ den Vogelkäfig auf dem Treppenabsatz stehen, zögerte. Dann öffnete sie die Tür zu ihrem Schlafzimmer. Das große Zimmer mit dem kleinen Balkon, der auf den rückwärtigen Garten hinausging, war damals wie selbstverständlich Charles’ Raum gewesen, keiner von ihnen hatte angezweifelt, daß dem Mann das größte Schlafzimmer zukam. Er hatte in tagelanger Arbeit die Wände schwarz gestrichen und ein großes rotes Poster von Che Guevara über sein Bett gehängt. Manchmal saß er im Schneidersitz auf der Decke aus samtigen Kaninchenfellen und rauchte einen Joint. Wie ein alter Indianer. Und aus den Lautsprechern seiner für damalige Verhältnisse gigantischen Stereoanlage dröhnte In-A-Gadda-Da-Vida von Iron Butterfly. Stundenlang.
    Es war so ewig lange her, so unvorstellbar fern, der Tag, an dem sie sich kennenlernten. Und es war so nah und so lebendig. Sie hatte im dunklen und verräucherten Club Voltaire auf einem Hocker an der Bar gesessen, in einem derart kurzen Rock, daß ihr heute noch kalt wurde beim Gedanken daran. Sie hatte ein Bier getrunken, das nicht schmeckte, und eine Roth-Händle geraucht, obwohl sie Zigaretten nicht mochte und Rauch nicht vertrug, nur weil der schlaksige Junge mit den kurzen dunklen Locken ihr eine angeboten hatte. Sie wußte nicht mehr, wie er hieß, nur daß er ihr aufgefallen war während eines Teach-in im Hörsaal VI, weil er eine dicke schwarze Brille trug, so eine Art Ernst-Bloch- oder Georg-Lukács-Gestell, und alles besser wußte als die da vorne auf dem Podium. Das hatte sie nun davon. Er redete auf einen kleinen dicken Blonden ein, in der einen Hand ein Glas, mit der anderen zerteilte er eine imaginäre Salami, wenn er ein wichtiges Argument unterstreichen wollte. Wahrscheinlich ging es um das Akkumulationsgesetz des Kapitals und wieso der Kapitalismus sich überlebt hatte und daß man auf der Seite der Arbeiterklasse kämpfen müsse.
    Sie hatte nicht zugehört, aber sich furchtbar kleinbürgerlich gefühlt, niemand trug mehr Minirock, jedenfalls nicht die Genossinnen; die waren

Weitere Kostenlose Bücher