Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
Dachboden. Die Tür ließ sich leicht öffnen, obwohl sie seit diesem einen Mal nie wieder oben gewesen war, sie knarrte noch nicht einmal. Die Treppe war steil und schmal. Oben roch es nach Staub und Verwesung. Sie wagte einen Blick in den grauen Zinkzuber, der in der Ecke stand. Er war fast voll, und obenauf schwamm ein graues, schlieriges Gebilde mit einem langen Schwanz. Es schüttelte sie ungewollt. Dahinter stand der kleine Tisch aus Saschas Zimmer, an dem sie geschrieben hatte, in ein Tagebuch, ein schwarzes Moleskine, sie erinnerte sich gut.
Der Sessel. Der Spiegel. Der Kleiderschrank. Es war alles da.
Auch der große Seekoffer. Doch der stand offen. Jemand hatte die Kleider und Tücher, den Schmuck und die Schuhe herausgeholt und nachlässig wieder hineingelegt. Sophie kniete sich neben den Koffer. Da war das Kleid, das Sascha am liebsten getragen hatte. Sie griff mit klammen Händen in den fadenscheinigen Stoff. Die Farbe ein bläuliches Rot, eigentlich eine kalte Farbe, aber an Sascha hatte es aufregend ausgesehen. Da! Das Armband, das sie ihr geschenkt hatte. Der Hut. Bücher. Sie hob ein zerlesenes Exemplar von Tolkiens Herr der Ringe hoch, das sich körnig anfühlte vor Staub, und legte es zurück in den Koffer.
Lange kniete sie so. Lange. Und als sie aufstand, schmerzten ihre Knie. Als erstes brachte sie den Tisch nach unten, dann den Sessel. Der Schrank würde warten müssen, das bewältigte sie nicht allein. Sie stellte jedes einzelne Möbelstück wieder an den Platz, an dem es damals gestanden hatte. Über das Bettgestell legte sie die indische Decke aus dem Koffer, die rote mit den kleinen Spiegeln.
Den Koffer holte sie als letztes.
Es war draußen dunkel geworden, als sie wieder hinunterging. In der Küche machte sie Abendbrot für zwei, einen Salat aus hartgekochten Eiern und Tomaten. Es war ein seltsames Gefühl, am Küchentisch einem zweiten Gedeck gegenüberzusitzen.
Nach dem Essen goß sie sich ein Glas Riesling ein, der einzige Wein aus Jürgen’s Lädchen, den man trinken konnte, und ging wieder hoch in Saschas Zimmer. Auf dem Tisch stand der Plattenspieler, den sie im Koffer gefunden hatte. Sie ließ die Schallplatte aus der Hülle gleiten und legte sie auf den Plattenteller. Der Sound war wie mürber Samt und man hörte die Kratzer, aber was machte das schon.
If the truth is found
To be lies
And all of the joy
Within you dies
Als sie aufwachte, lag sie auf Saschas Bett und hielt das Glas Wein in der Hand, noch fast voll. Sie hatte keinen Tropfen verschüttet.
In der Nacht träumte sie von dem großen Bett in Charles’ Zimmer und von der weißen Katze. Von Sascha, die sich an sie schmiegte. Ihr warmer Körper an ihrem Rücken. Ihre Atemzüge ein sanfter Hauch an ihren Schulterblättern, Ihre Hand, klein, zart, wie ein Vogel im Nest.
Sie wachte auf vom Schlagen einer Tür, ein kalter Lufthauch strich über ihre bloße Schulter, sie zog die Decke hoch bis unters Kinn und wünschte sich zurück in den Traum. Dann schlief sie wieder ein.
V OR DER S TILLE
1
Nachthemden. Hautcreme. Haarbürste. Die Liste war nicht lang, aber beruhigend: Offenbar ging man im Krankenhaus davon aus, daß die Mühe noch lohnte. »Und die Versicherungskarte der Krankenkasse.« Klar, dachte DeLange. Hauptsache, ihr kriegt euer Geld.
»Hat sich Frau DeLanges Freund mal blicken lassen?« Durchs Telefon hörte er das Klirren von Besteck auf Geschirr. Wurde im Krankenhaus das Frühstück gerade serviert oder schon wieder abgeräumt?
»Welcher Freund?« fragte die Schwester.
Schöner Freund. Ans Telefon ging der Kerl auch nicht. Hinfahren? Auf Verdacht? Warum nicht. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Und Feli hatte immer, auch als sie noch zusammenlebten, einen Wohnungsschlüssel bei den Nachbarn deponiert – die gossen auch die Blumen, wenn es nötig war.
Er fuhr die Strecke wie in Trance. Feli wohnte im Gallus, dort, wo er jede finstere Ecke kannte. Sie fand die Aura von schnauzbärtigen Männern und bekopftuchten Frauen, von Asialäden, Gebrauchtwagenhändlern und Dönerbuden inspirierend. Er nicht. Er kannte sich hinter den pittoresken Kulissen besser aus als sie.
Vor der Haustür. Zwei Namen neben der Klingel. DeLange und Kramer. Warum bloß tat das noch immer weh. Doch nun verstand er wenigstens, weshalb sie sich mit den Mädchen neuerdings in der Stadt traf. Sie wollte den beiden den neuen Kerl nicht zumuten. Danke für dein Feingefühl, Feli.
Er klingelte. Nichts. Er klingelte bei
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