Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
alle jünger als sie, hatten enge Jeans an, darüber kniehohe Stiefel und eine Lederjacke. Und wenn sie ehrlich war, interessierte sie sich nicht für die theoretische Herleitung der Notwendigkeit der Revolution, obwohl sie ein Marxismus-Tutorium belegt hatte, weil das alle taten. Doch immer wenn der Knabe mit den lockigen Haaren eine weitere Salami mit ein paar Handkantenschlägen hingerichtet hatte und sie anguckte, hatte sie genickt und »genau« gesagt und am Bier genippt und den Rock über den Oberschenkeln gerade gestrichen.
Nach Hause war sie mit einem anderen.
Mit einem, der plötzlich neben ihr gestanden und gelächelt und »Was für ein abstrakter Scheiß« gesagt hatte. Und daß man konkret werden müsse. Daß die Revolution im Hier und Jetzt zu leben sei. Und man nicht auf den neuen Menschen warten könne.
Charles, in einem geblümten Hemd und mit langen weichen dunkelblonden Haaren. Einen Monat später zogen sie zusammen, in einen heruntergekommenen Altbau in der Rotlintstraße. Fünf Zimmer, zwei Balkons. Die Heizung wurde nie warm, und der Wasserboiler fiel immer dann aus, wenn sie unter der Dusche stand und sich gerade das Haar einshampooniert hatte. Aber es war ein Traum gewesen. Zuerst.
Sophie zog die Tür wieder hinter sich zu. Der Raum nebenan war damals ihr Zimmer gewesen. Sie hatte lange nicht mehr hineingesehen. Was sie sah, war trostlos. Es roch unbewohnt. Da waren Flecken auf dem grauen Parkett. Unter dem Fenster hatte sich das Holz hochgewölbt. Feucht, schon seit Jahren. Wahrscheinlich Schimmel in den Wänden. Damals war das Zimmer licht und luftig gewesen und hatte nach Zimt und Sandelholz geduftet. Sie hatte nicht viel aus Frankfurt mitgebracht, als sie einzogen. Eine Kommode, deren Schubladen immer offenstanden. Und ein Bett, ein Traum von einem Bett. Mit weißen Laken und weißen Bettbezügen. Auf der Kommode ein silbernes Teekännchen, in dem Räucherstäbchen steckten. Und als Gardine ein alter Bettüberwurf aus Filethäkelei.
Sophie ging zum Fenster. Im Geäst der Lärche, die den Blick auf den Garten verstellte, hockte ein winzig kleines Vogelnest aus Gras und Zweigen und Plastikfetzen. Es rührte sie fast zu Tränen. Damals waren die Bäume noch klein gewesen, und keiner von ihnen hatte sich vorstellen können, wie groß sie einmal werden würden. Charles hatte eine Birke gepflanzt, sie hatte eine Rotbuche gewählt, und Sascha … Die Rose, die sie sich gewünscht hatte, gab es nicht mehr. Es war das erste, wonach sie bei ihrem Einzug gesucht hatte. Aber der Wacholder stand noch immer.
Ihre Schritte hallten in dem leeren Raum. Wer hatte nach ihr hier gewohnt? Es hatte wechselnde Mieter gegeben, das wußte sie, aber nie war jemand lange geblieben. Was hatten sie gespürt? Die Liebe? Den Haß? Die Trauer?
Die Tür zum dritten Zimmer öffnete sie nur zögernd. Einmal kurz hatte sie in den Raum gesehen, als der Makler sie durchs Haus führte bei der ersten Besichtigung. Seither mied sie das Zimmer, sie ging stets schneller, wenn sie an ihm vorbeimußte, es war kindisch, aber sie konnte nicht anders. Der Raum war leer bis auf ein Bettgestell. Mit ein paar Schritten war sie beim Fenster, das schwarz war von Spinnweben, und versuchte es zu öffnen. Zugerostet. Ihr Blick ging nach oben. Und da, da war er noch, der Haken, an dem der Vogelkäfig gehangen hatte. Sie lief zurück in den Flur, nahm den Käfig und hängte ihn an seinen Platz. In diesem Augenblick wußte sie, was sie zu tun hatte.
mein Schwester der Marlenichen
sucht alle meine Benichen
Der Dachboden. »Man muß das Haus gründlich entrümpeln«, hatte der Makler gesagt. »Die meisten Mieter haben irgend etwas zurückgelassen, auch der Keller ist voll mit Gerümpel. Lassen Sie jemanden kommen, der Ihnen hilft, ich kenne da eine Initiative junger Arbeitsloser.«
Aber Sophie hatte den Kopf geschüttelt. Die Vorstellung, daß es noch immer da war … daß sie noch immer hier war … das war ihr wichtiger als Ordnung. Sie zog die Tür zu Saschas Zimmer hinter sich zu, lehnte sich einen Moment lang dagegen und horchte auf die Geräusche des Hauses. Das Haus atmete ein und atmete aus. Es knisterte. Etwas bewegte sich über ihr. Etwas schabte am Holz. Die Katze?
Aber die weiße Katze strich um ihre Beine. Sophie bückte sich und nahm das Tier auf, das sich diesmal nicht wehrte. »Du erinnerst dich, oder?« flüsterte sie der Katze ins Ohr. Dann ließ sie die Weiße herunterspringen und öffnete die Tür zum
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