Paul Flemming 01 - Dürers Mätresse
Kälte. Beeilen wir uns, in mein Büro zu kommen.«
Pauls Ex-Schulkameradin setzte einen resoluten Gesichtsausdruck auf und schnürte den Gürtel ihres schmal geschnittenen Mantels fest zusammen, bevor sie – mit Paul im Schlepptau – die U-Bahnstation verließ und sich auf dem Weg zum Justizpalast vollends der Willkür dieses unbarmherzig hartnäckigen Winters auslieferte.
Der riesige Bau begrüßte die beiden grimmig und finster. Sie passierten das baumhohe schmiedeeiserne Tor, das sie auf den schlecht gekehrten Hof des Justizgebäudes führte.
Paul versuchte, seine Erinnerungen weiter aufzufrischen: Er hatte die Staatsanwältin, als sie noch keine Staatsanwältin war, alles in allem als etwas unscheinbar im Gedächtnis behalten. Sie war – trotz ihrer langen blonden Haare und der bewegten, wasserblauen Augen – nie eine gewesen, nach der sich die Jungs die Hälse verrenkt hatten. Paul hatte jedoch die sanfte und faire Art ihren Mitschülern gegenüber positiv im Gedächtnis behalten.
Ansonsten wusste er so gut wie nichts über sie. Außer, dass sie irgendwann zum Studieren nach München gezogen war, woraufhin der Kontakt vollends abgerissen war.
Vor etwas mehr als drei Jahren hatten sie sich bei einem Gerichtstermin erstmals wieder gesehen. Er hatte damals im Auftrag von Blohfeld Fotos eines Schwurgerichtsprozesses gemacht. Bis auf solche Ausnahmen hatte Funkstille zwischen ihnen geherrscht.
Frau Blohm (ihren Vornamen verschwieg sie, wenn nur irgend möglich, und hatte es nach Pauls Einschätzung ihren Eltern niemals verziehen, ihn überhaupt erhalten zu haben) grüßte den Pförtner mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken. Paul schätzte sie nicht als unhöflichen Menschen ein. Sie hatte es sich wohl lediglich zur Angewohnheit gemacht, in diesem Gebäude so wenig menschliche Regung wie möglich zu zeigen. Paul dachte sich, dass sie in einem Schlangennest arbeitete und es einige der älteren Kollegen nicht ungern sehen würden, wenn sie sich eine Blöße geben würde.
Paul nutzte den langen Weg durch die irrgartenähnlichen Gerichtsflure, um sie auf seinen aktuellen Informationsstand zu bringen. Sie zeigte sich verhalten interessiert und sagte, dass er seine Fotos und Negative so schnell wie möglich bei ihr abzuliefern hätte.
Paul war überrascht und fast auch ein wenig gekränkt über ihre unpersönliche, resolute Art. Doch er rief sich selbst zur Ordnung: Was hatte er denn erwartet nach fast zwanzig Jahren? Im Grunde war er ja ein Unbekannter für sie.
Sie erreichten ihr Büro, wo sie ihren Mantel ablegte und ihr Kostüm sorgfältig glatt strich. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, schaltete den Computer ein. Während Paul sich einen Stuhl heranzog, überflog sie kurz die eingegangenen E-Mails und schloss dann ihre Schreibtischschublade auf, aus der sie einen mattgrünen Aktenordner nahm. Sie legte ihn vor sich auf den Schreibtisch und schlug ihn auf.
»Ich weiß gar nicht, warum ich mich darauf einlasse«, sagte sie kühl.
»Weil du ebenso an der Wahrheit interessiert bist wie ich«, beeilte sich Paul zu erklären.
»Ein Unfall ist ein Unfall.«
… ist ein Unfall ist ein Unfall ist ein Unfall …, setzte Paul in Gedanken fort. Dann sagte er entschieden: »Eben nicht. Ich glaube immer weniger daran. Wenn ich dich richtig einschätze, tust du es auch nicht.«
Er sah, wie sie ihre Augen zusammenkniff. Paul war sich der Schwäche seiner Argumentationsbasis bewusst. Dennoch war er fest entschlossen, sich für seine Sache stark zu machen.
»Also gut«, sagte sie schließlich, »deine Beobachtungen erscheinen mir recht wichtig zu sein. Der Sturz in die Pegnitz hat auch uns auf Anhieb stutzig gemacht. Die Routine sieht in solchen Fällen zunächst einmal einen Drogentest vor.« Die Staatsanwältin wandte sich ihren Unterlagen zu. Auf einem DIN-A4-Bogen waren drei Kurvendiagramme abgebildet, die sie ihm in knappen, zögerlichen Worten erläuterte: »Wir haben hier drei Infrarotabsorptionsspektren zum Nachweis der gängigsten Konsumdrogen.« Sie schob sich das Blatt zurecht, sodass der Kegel ihres Schreibtischlichts direkt darauf fiel. Doch die Kurven blieben enttäuschend flach.
Paul schaute aufmerksam hin. Ganz bewusst wandte er ihr seine linke Seite zu, die – wie er sich einbildete – markanter wirkte und eine Entschiedenheit ausstrahlte, mit der er sie zum Weiterreden animieren musste. Denn es war ja alles andere als selbstverständlich, dass sie so offen mit ihm sprach.
»Helmut Densdorf
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