Paul Flemming 04 - Die Meisterdiebe von Nürnberg
Ansonsten sahen die Flitzer ziemlich zivil aus, dachte Paul: Die Boliden könnten glatt als Straßenautos durchgehen, wären da nicht die ausgeprägten Heckspoiler und die vielen Werbeaufkleber. Und natürlich auch der voluminöse Sound der hochgezüchteten Motoren.
Wieder donnerte das DTM-Feld an ihm vorbei. Paul gegenüber jubelten Betreuer, Arbeiter und die ersten versprengten Fans begeistert von der Steintribüne. Paul fiel es immer wieder schwer, sich vorzustellen, dass in den dreißiger Jahren während der Reichsparteitage in Nürnberg von demselben steinernen Monument aus Adolf Hitler zu den Massen gesprochen hatte. Hitlers Lieblingsarchitekt Albert Speer hatte die bombastische Selbstdarstellungsbühne 1935 für seinen Führer erschaffen. Auf der einstigen Rednerempore waren nun TV-Kameras aufgebaut.
Über Lautsprecher wurden die anwesenden Sponsoren, Techniker, Streckenposten sowie einige hochgestylte Fahrerfrauen darüber auf dem Laufenden gehalten, was am anderen Ende der Bahn an der engen und berüchtigten Grundig-Kehre vor sich ging oder hinter der die Sicht versperrenden Steintribüne an der kniffligen S-Kurve.
Paul lauschte gerade gebannt den Ansagen der Rennleitung, als er eine Hand auf seinem Arm spürte. Er drehte sich um, sah Hannah und war – obwohl er hier mit ihr verabredet war – überrascht. Hannah war zwar nie besonders zimperlich damit, ihre gute Figur durch sexy Kleidung zu betonen. Aber dieser Anblick war nun doch spektakulär.
»Du siehst aus wie ein Cheerleader aus der ungeschnittenen Version von American Pie«, konnte Paul sich nicht verkneifen zu sagen. »Fehlt nur noch der Puschel auf dem Kopf.«
Hannah sah ihn böse an und zog ihn aus dem Gedränge. Wortlos führte sie Paul durch die Menge, vorbei am überfüllten Pressezentrum und an einer Armada mobiler hellblauer Toilettenhäuschen.
Sie verließen den steinernen Ring um die Zeppelinwiese und erreichten die Fahrerlager entlang der Hermann-Böhm-Straße, nahe dem Großen Dutzendteich, in dem sich die mächtige Kulisse des Kolosseums spiegelte. Erst hier entschloss sich Hannah dazu, Paul auf seine dummen Bemerkungen Kontra zu geben: »Wie Sie wissen, jobbe ich hier als Nummerngirl, Flemming«, sagte sie und stemmte ihre schlanken Arme in die textilfreien Hüften. »Der ganze Norisring probt für den großen Auftritt am nächsten Wochenende. Diese Klamotten trage ich nicht, um Ihnen einen Vorwand für einen Ihrer Machosprüche zu liefern, sondern weil die Fotografen und die Fahrer das so mögen.« Sie ließ Paul nicht zu Wort kommen. »Bevor Sie mir irgendwelche bescheuerten Vorhaltungen machen: Der Norisring bringt x-mal mehr ein als das Kellnern in irgendeiner Kneipe, in der mir jeder zweite Mann an den Po grapscht. Ich habe nämlich keinen Bock, Katinka dauernd um mehr Kohle anzubetteln.«
»Sie hätte aber sicher kein Problem damit, deinen Etat aufzustocken«, sagte Paul und biss sich im gleichen Moment auf die Lippen.
Hannah strafte ihn prompt mit einem weiteren bösen Blick. Dann zog sie ein Haargummi aus der Hosentasche ihrer Hotpants und band ihre Lockenmähne im Nacken zusammen. »Ich will Sie meinem Chef vorstellen«, sagte sie. »Wenn Sie schon mal hier sind . . .«
Paul folgte Hannah bis zu einem Ensemble aus zwei parallel stehenden Sattelschlepperaufliegern, mehreren großen Lieferwagen und einem zentralen Zelt. Das Ganze sah aus wie eine Wagenburg aus einem modernen Western, ergab zusammen aber ein hochfunktionales, mobiles Logistikzentrum für die Ausstattung und Wartung von Rennwagen inklusive Büro, Werkstatt und Ersatzteillager.
»Es ist nett von dir, dass du mich hierher eingeladen hast«, übte sich Paul in Wiedergutmachung. »Die › 200 Meilen von Nürnberg ‹ sind eine echte Ablenkung von meinen Problemen. Der Lärm pustet einem den Kopf so richtig frei.«
Hannah nickte ihm gnädig zu. Dann klopfte sie an die Tür eines VW-Busses mit getönten Scheiben. Die Schiebetür glitt auf, und ein drahtiger, mittelgroßer Mann mit gewelltem dunkelblonden Haar, intensiv graublauen Augen und wulstigen Lippen trat heraus. Paul schätzte ihn auf Mitte vierzig.
»Wenn ich mal bekannt machen darf«, sagte Hannah jetzt sehr freundlich. »Das ist Paul Flemming, Fotograf. Und Herrn Stromberg muss man ja nicht extra vorstellen«, sagte Hannah und lächelte ihren derzeitigen Boss an.
Nein, dachte Paul, das musste man wirklich nicht. Carl Stromberg war stadtbekannt. Der kantige Selfmade-Man mit dem trockenen Charme
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