Paula geht
Ralf, das macht Spaß, probier ’ das auch mal“, forderte sie ihn auf. Und er hatte seine liebe Mühe, sie von dieser Idee abzubringen und nicht wie ein Spielverderber dazustehen.
„Hey, lass uns weitermachen. Schließlich hast du heute noch was anderes mit mir vor, wenn ich dich recht verstanden habe?“
Elli nickte eifrig und zog sich hoch, fast hätte sie sich an Henriettes Bein festgehalten, Ralf konnte sie gerade noch daran hindern, indem er ihr die Hand reichte. Sie gab ihm einen dicken, milchwarmen Schmatzer auf den Mund und fragte: „Was machen wir jetzt?“
Normalerweise genoss Ralf die Melkzeit, das Geräusch der Pumpe, das Kollern im Magen der Kühe, den Geruch des Heus. Oft unterhielt er sich ein wenig mit seinen Kühen. Aber dieses Energiebündel wollte beschäftigt werden. „Könntest du die letzte Box ausmisten? Die Schubkarre steht schon davor. Helma hat dort vorgestern gekalbt und das Stroh muss auf den Misthaufen. Aber nur, wenn es dir nichts ausmacht?“
„Ein Kälbchen? Warum hast du mir das nicht gleich gesagt? Darf ich es streicheln?“ Elli hüpfte ganz aufgeregt auf der Stelle.
Seufzend ärgerte sich Ralf über seine Unbedachtheit. Er hatte es ihr in Ruhe zeigen wollen, ganz entspannt nach dem Frühstück. „Geh mal da hinten durch, die zweite Stalltür rechts, da findest du die beiden. Aber bitte mach langsam, sonst wird die Mutter sauer, ja?“
Elli war schon unterwegs und er hörte, wie sie begeistert das neue Kälbchen begrüßte und auch ein paar freundliche Worte für die Mutter fand. Ja, sie wird bestimmt eine gute Mutter werden. Was habe ich nur heute, dass sie anfängt, mir auf die Nerven zu gehen, überlegte Ralf verdrossen.
Paula klappte energisch ihre Bücher zu. Heute war sie nicht bei der Sache, aber sie lag gut im Zeitplan und hoffte immer noch darauf, im Oktober die Prüfung zu schaffen. Das Lernen machte ihr nach wie vor Spaß und sie kämpfte sich Schritt für Schritt durch den medizinischen Dschungel. Oder vielleicht musste sie sich auch durchfressen. Manchmal kam sie sich schon vor wie eine von Ralfs Kühen, die den ganzen Tag das Gleiche wiederkäuten, bis es endlich verdaulich war.
Irgendetwas stimmte nicht mit ihr.
Heute wäre eigentlich Sven-Tag, wenn es so etwas wie eine stillschweigende Übereinkunft zwischen ihnen gegeben hatte. Aber Sven blieb aus. Kein freundliches Grinsen, kein Fresspaket, das er oft mitbrachte, weil er höhere kulinarische Ansprüche hatte als Paula. Beim Kochen war sie inzwischen zwar keine absolute Niete mehr, aber höchstens ein Trostpreis. Sie hatten immer mal wieder zusammen gekocht und Paula hatte sich langsam aus der Zuliefer- und Schnippelrolle herausgearbeitet in Richtung Kochtopf und Pfanne.
Sie machte sich Sorgen um Sven. Er war, seit sie ihn kannte, ein eher ruhiger Typ, den sie nie so ganz durchschaut hatte. Aber jetzt wirkte er viel weniger unbekümmert als noch im Frühling, manchmal sogar richtig verbittert. Einfach so, als trüge er eine schwere Last. Sicher, seine Mutter, der bescheuerte Chef, eine Arbeit, die ihn nur teilweise befriedigte, all das war kein Spaß. Aber all das hatte er auch schon vorher gehabt. Was hatte sich verändert?
Sie vermisste sein Lächeln, sein Lachen, sein freundlich-breites Grinsen. Sie vermisste das unbekümmerte gemeinsame Flachsen, auf das sie sich immer schon den ganzen Tag gefreut hatte. Sie vermisste seine körperliche Anwesenheit, wie er lässig an der Spüle lehnte, das Küchenhandtuch selbstverständlich über die Schulter geschwungen. Wie er seine langen Beine unter ihren Tisch streckte, immer auf der Hut, den Tisch nicht aus Versehen mit seinen Knien anzuheben. Seine goldfarbenen Augen, die manchmal so dunkel werden konnten, und seinen Drei-, Vier-, Fünftagebart. Und sie wollte ihm helfen. Ihn bei dem, was ihm das Herz so schwer machte, unterstützen. Waren das mütterliche Gefühle, dieses sehnsüchtige Ziehen in der Brust? Sie hatte keine Ahnung, wie eine Mutter fühlte, und irgendwie weigerte sie sich, sich da hineinzudenken.
Manchmal hatte sie schon geglaubt, sie hätte sich vielleicht ein ganz klein wenig in Sven verliebt, aber diesen Gedanken schob sie dann schnell von sich, ganz weit auf den Dachboden oder in den Keller. Er könnte ihr Sohn sein, na ja, fast zumindest. Es war schon so lange her, dass sie verliebt gewesen war – wenn sie das überhaupt jemals so richtig gewesen war –, dass sie es nicht wagte, ihren Gefühlen einen Namen zu geben. Sie
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