Paula geht
Schulter angelehnt, aber damit war jetzt auch genug. Man muss einfach wissen, wann man verloren hat, dachte sie und hob den Daumen in Richtung Süden.
Einige Stunden später stand sie auf einer Autobahnraststätte. Drei Stunden, achtzig Kilometer – war das ein guter Schnitt beim Trampen? Vermutlich nicht, auch wenn sie wenig Erfahrung damit hatte. Seit über einer Stunde stand sie in der prallen Sonne und hielt den Daumen hoch. Ihre Füße waren geschwollen. Im Sommer neigte sie zu Wassereinlagerungen. Ihre Jeans klebten unangenehm an den Oberschenkeln. Vorhin hatte sie sich mit teuren fünfzig Cent an der Autobahnraststätte frisch gemacht, aber auch das war nur eine kurze Abkühlung gewesen. Sie musste weiter. Noch wusste sie nicht wohin, aber sie wollte möglichst viele Kilometer zwischen sich und ihr Haus bringen.
Mein Haus, dachte sie, immer noch denke ich: mein Haus. Aber dieser alte Schrottkasten hat mich dahin gebracht, wo ich jetzt bin. Eine Tramperin ohne Geld in der Tasche mit Wurst, die schon komisch riecht, ein paar alten Brötchen und einigen Karotten, die eigentlich für die Ziegen gedacht waren.
Tja, wer sich wohl um die fünf Meckerliesen kümmern würde? Jetzt lief ihr doch eine Träne über das verschwitzte Gesicht. Unwirsch wischte sie sie weg. Nur nicht sentimental werden. Überleg dir lieber, wo‘s hingehen soll. Vielleicht doch Berlin? Da gab es sicher eine gute Infrastruktur für Obdachlose, so lange, bis sie sich einen Job gesucht hatte. Aber ohne Wohnung keinen Job und anders herum.
Obdachlos? Sag mal, spinnst du Paula, meldete sich eine andere Stimme. Du hast zuhause ein frisch renoviertes Häuschen und willst freiwillig obdachlos werden? Dann sag mir, wie ich die nächsten Monate über die Runden komme, fauchte die Obdachlosen-Vertreter-Stimme. Leih dir halt was, entgegnete die lockere Stimme. Sicher gibt es Leute, die dir etwas leihen würden. Es ist doch nur noch ein halbes Jahr, wenn alles gut geht. Deine Mutter, Ralf, vielleicht sogar Sven oder überhaupt Hubert – der schuldet dir sowieso noch einiges.
Kurz dachte Paula nach. Hubert, klar, die Stimme hatte recht, aber dann winkte sie ab. Sie wollte mit dem Herrn nichts mehr zu tun haben und vermutlich hatte er noch weniger Geld als sie, schließlich konnte er noch nie mit Geld umgehen. Wie wär‘s mit Herrn Hugendubel? Immerhin hatte er ihr mal diesen Zettel geschrieben, wenn Sie etwas brauchen würde, sollte sie sich melden.
Nein, Paula pumpt keine Wildfremden an. Auch wenn ihr das Wasser bis zum Hals steht. Paula versucht, wenn’s irgendwie geht, alleine klarzukommen, dann ist man auch von niemandem abhängig, keifte eine andere Stimme, die klang wie ihre Ex-Schwiegermutter.
Annemarie hätte sie auch fragen können, dachte sie gerade, als ein älterer LKW-Fahrer sie zu sich winkte. Er war riesig, spindeldürr und hatte eines dieser Ripp-Hemden an und sonst nicht viel. Dennoch schaute er sie freundlich an und fragte, ob sie mitwolle.
„Wohin fahren Sie denn?“, fragte Paula, obwohl sie selbst nicht wusste, wo sie hinwollte.
„Düsseldorf.“
„Prima, da fahr ich gerne mit.“ Und sie warf ihren Rucksack oben auf den Beifahrersitz und zog sich schwerfällig hoch.
„Scheißhitze heute. Übrigens, ich bin Manfred.“
„Paula, freut mich. Danke, dass Sie mich mitnehmen, ich steh hier schon ‘ne Weile.“
Manfred schien ganz nett zu sein. Er war vielleicht sechzig, vielleicht aber auch schon älter und irgendwie sah er nicht so aus, als ob er über sie herfallen würde. Konzentriert schaute er auf die Straße und leitete ein Überholmanöver ein. Als sie wieder eingeschert waren, drehte er leise das Radio an, lehnte sich zu „Yellow Submarine“ gemütlich zurück und sah sie erwartungsvoll an. „Ich fahre Sie sicher nach Düsseldorf und Sie erzählen mir mal, was eine Frau in Ihrem Alter hier auf der Autobahn macht.“
Ups, der war ja ganz schön direkt. Stockend fing Paula an, ihm die ganze Geschichte zu erzählen, wie sie etwas Neues wagen wollte und auch gedacht hatte, sie würde es schaffen, und sich auch wohlgefühlt hatte dort oben zwischen Wolken und Seen. Und wie dann eins kam und das Nächste und sie irgendwann kein Geld mehr hatte und auch keinen Job bekam und dann ihr Haus verschandelt wurde und alle neugewonnen Freunde so komisch wurden und schließlich noch die Anzeige obendrauf kam. Aber das war ja, nachdem es schon genug gewesen war.
Manfred war ein guter Zuhörer, er brummte ab und zu und
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