Paula Kussmaul laesst nicht locker
Dreifacher Quatsch!
War es, weil seine Erzählungen über Südamerika und sein Manolito etwas Besonderes waren?
Auch Quatsch! In der Schule und auf der Straße war er ein Junge wie alle anderen. Nur eben viel unglücklicher.
Ja! Das musste es sein. Sein Unglück störte sie. Es passte ihr nicht, dass einer in ihr Haus zog und darüber unglücklich war. Sie wollte, dass es Enno hier gefiel.
Aber das wollten die anderen ja auch, oder? Die ganze Klasse war beleidigt, weil es Enno in Bakenburg nicht gefiel.
Was war der Unterschied?
Paula dachte nach und dachte nach, und sie beobachtete Enno und die Klasse, bis es eines Tages bei ihr klick machte: Die anderen waren beleidigt, weil es Enno in Bakenburg nicht gefiel – sie selbst wollte, dass alles so war, dass es ihm hier unbedingt gefiel. Die anderen wollten Enno dazu zwingen, Bakenburg schön zu finden – sie wollte, dass alle ihm halfen, sich bei ihnen wohl zu fühlen.
So einfach war das.
Warum nur hatte sie das nicht schon früher begriffen?
Zwei Wochen waren vergangen, seit Enno sie Zecke genannt hatte, da stand Paula eines Nachmittags bei Fühmanns vor der Tür und klingelte. Sie hielt das Aneinander-vorbei-Kucken einfach nicht länger aus. Vielleicht, so dachte sie, ging es Enno ja genauso. Vielleicht musste sie nur den ersten Schritt tun, um eine Versöhnung zu erreichen. Sie war dazu bereit. Aber natürlich wollte sie das nicht so deutlich zeigen. Sie wollte Enno nur fragen, ob er ihr die Mathe-Aufgaben geben könne. Sie hätte sie in der Schule liegen lassen.
Enno öffnete, ließ aber die Kette davor. Als ob irgendeine Fremde, der er nicht trauen durfte, vor seiner Tür stand, so behandelte er sie. Manolito saß auf seiner Schulter und kuckte viel neugieriger und freundlicher.
»Hallo, Manolito!«, begrüßte Paula erst mal den Papagei, bevor sie ihren Vers aufsagte. Dabei bemühte sie sich, ein völlig unbekümmertes Gesicht zu machen. Gab es etwas Selbstverständlicheres, als die Mathe-Aufgaben in der Schule liegen zu lassen?
Enno starrte Paula zwei, drei Sekunden lang finster an, dann schlug er ihr die Tür vor der Nase zu.
Sie wartete noch einen Moment. Es konnte ja sein, dass Enno nur die Mathe-Aufgaben holen wollte. Als er nach fünf Minuten nicht zurück war, wusste sie Bescheid. »Klotzkopf!«, schimpfte sie. Wie konnte einer nur so stur sein! Das machte doch bestimmt keinen Spaß, immer bloß in der Wohnung zu hocken und sich allein mit seinem Papagei zu beschäftigen.
Lange überlegte Paula, mit wem sie mal über Enno sprechen konnte. Mit Katja? Nein! Die würde sie gar nicht ernst nehmen. Für Katja waren ihre Sorgen nur Kleinkinderkram. Mit Jenny? Die würde nur sagen: »Lass ihn doch, wenn er nicht will. Jeder ist seines Glückes eigener Schmied.« Linus war für solche Gespräche noch viel zu klein, und die Mutter hatte genug andere Sorgen, sollte sie ihr da auch noch mit Enno kommen?
Frau Stein? Ja, mit dem »Steinchen« konnte man reden. Leider erwischte man sie selten allein. Und bei einem solchen Gespräch durfte doch kein Dritter dabei sein.
Paula lauerte noch darauf, das »Steinchen« mal allein anzutreffen, da wurde sie eines Abends, als sie für die Mutter noch schnell in den Supermarkt gelaufen war, von Ennos Vater angesprochen. Es war, als sie an der Kasse warten musste, er stand direkt hinter ihr. »Enno findet keine Freunde«, sagte er, nachdem er sie begrüßt hatte, mit traurigem Gesicht. »Weißt du, was er falsch macht?«
Erst wollte Paula sagen: »Alles!« Dann erschien ihr das zu einfach. Ennos Eltern hatten ja gesehen, wie Enno gleich in den ersten Tagen zweimal böse verprügelt nach Hause gekommen war. »Er will ja gar keine Freunde finden«, antwortete sie vorsichtig.
Ennos Vater nickte nachdenklich. »Ja, das glaube ich auch. Der Umzug hierher ist ihm sehr schwer gefallen. Könnt ihr ihm denn nicht helfen? Du gehst doch in seine Klasse.«
Aber Hilfe war ja das Letzte, was Enno wollte. Sollte Paula seinem Vater erzählen, dass er Zecke zu ihr gesagt hatte?
»Weißt du, das ist gar nicht so einfach, wenn man aus einem Land wie Peru nach Deutschland kommt.« Ennos Vater seufzte. »Ich meine damit nicht allein das Klima, ich meine vor allem die Menschen. In Südamerika lebt man mehr zusammen, hier lebt jeder für sich. Enno sagt immer, hier würde er frieren ... Ich glaube, er fühlt sich sehr allein gelassen. Und das ganz besonders von uns, seinen Eltern. Aber was sollen wir denn tun? Meine Frau und ich, wir
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