Pelbar 6 Das Lied der Axt
die Lage hier die Augen auf. Ihr werdet außer all der Kälte und dem Bösen, an das ihr gewöhnt seid, auch Gutes sehen. Ihr habt genug Kälte erlebt, genug Härte, genug Tod für ein ganzes Leben.
Ihr werdet erfahren, daß es auch Wärme gibt. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie gewaltig groß Urstadge ist. Das Land, durch das wir gekommen sind, ist so unermeßlich, so riesig, so vielfältig in seinen Gebieten und Jahreszeiten, so reich, so voll von Wild und Vögeln; es hat Gegenden, wo man leicht leben kann, fast endlose Wälder und weit im Osten und Süden die Pelbarstädte und jetzt die Farmen der Shumai ringsherum – es ist wunderbar, daran zu denken. Es gibt Eis im Winter, aber der Winter ist kurz, und weiter im Süden gibt es überhaupt keinen Winter oder zumindest keinen nennenswerten.«
Stawn schnaubte verächtlich. »Wenn das alles so ist, warum bist du dann hierhergekommen?«
»Um zu sehen. Um die Grenze von allem zu sehen.«
»Ist hier die Grenze von allem?«
»Ja. Es sei denn, man kann dieses Eis überqueren.«
»Niemand kann das Eis überqueren.«
»Nein. Ich sehe, daß es unermeßlich ist. Und bald wird es Winter.«
»Wenn wir fortgehen und Priester uns nicht unterstützen, wird uns Eis bald nachfolgen und alles Land bedecken, von dem du sprichst, selbst wenn das wahr sein sollte, was du sagst.« Der Sprecher war ein älterer Mann, klein und grauhaarig.
Tor schaute ihn an. »Wenn du glaubst, daß hier das Paradies ist, ein Garten der Muße, dann hast du keinen Grund fortzugehen. Aber es gibt gutes Land östlich von hier und südlich, wo man nackt herumlaufen kann, wenn man will, und trotzdem nicht friert.«
»So etwas tun wir nicht.«
»Nein. Aber ihr könntet es tun. Ich überlege nur.
Ihr seid mutige Männer. Hat niemand je zuvor diese Fragen aufgeworfen?«
»So etwas tun wir nicht«, sagte ein Mann bestimmt.
Alle machten betretene Gesichter. »Selbst wenn du recht hättest, trotzdem sterben Leute, wenn sie Schwierigkeiten machen. Ich sage, lassen wir Finger davon. Du mußt bald fort.«
»Ja. Ich würde gleich gehen, möchte aber Dardan helfen.«
»Dardan ist unser bester Jäger. Er hat Tegrit getö-
tet. Das war nicht recht. Aber wir können nicht wollen, daß wir ihn verlieren. Kein böser Mensch. War damals nicht er selbst. Man muß eine Ausnahme machen. Das alles kann Tegrit nicht zurückbringen. Nun muß Splay unsere Werkzeuge machen. Niemand konnte es so gut wie Tegrit.«
»Das werden Priester entscheiden«, sagte der kleine, graue Mann.
»Ja, aber auch Orsel. Sie sollte ihn wahrscheinlich heiraten.«
»Hmmmm«, schnaubte ein dünner Mann. »Ich kenne einen Priester, dem diese Veränderung gefallen wird.«
Dem folgte allgemeines Geraune. Tristal blickte sich um. Orsel war nirgends zu sehen. Jetzt war er durcheinander. Es hatte den Anschein gehabt, als liebe sie ihn. Er wußte jetzt, daß es bei den jungen Seglern allgemein üblich war, bei Spaziergängen in der Dunkelheit die gegenseitigen Grenzen auszuloten, obwohl Treue in der Ehe die Regel zu sein schien.
Trotzdem verspürte er Bedauern, weil das, was er eigentlich ohnehin nicht wollte, unmöglich war. Er war versprochen, aber das schien alles lange her und sehr weit entfernt. Vielleicht konnten sie bald zurückkehren, wenn das Problem der Segler gelöst war – wenn sie ihm entrinnen konnten. Tristal sah, daß es sehr ernst war, und daß Tor sie beide offenbar noch weiter hinein verstrickte. Für einen solchen Individualisten hatte Tor wirklich einen ausgeprägten Hang dazu, in gesellschaftliche Schwierigkeiten zu geraten.
Ein Priester näherte sich, und die Jäger lösten die Gruppe mit geübter Lässigkeit auf. Tristal beschloß, nach Orsel zu suchen, und fand sie im Erdhaus ihrer Familie, wo sie mit ihrer Großmutter und ihrer Tante mit grimmiger Miene webte. Alle drei hatten geweint.
Die beiden älteren Frauen waren jetzt verwitwet; Frauen mit starren Gesichtern, aus denen das Leben gewichen war. Keine von ihnen blickte auf, als Tristal eintrat und sich in Orsels Nähe auf die Fersen hockte.
Er spürte eine knisternde Spannung in der Luft.
Endlich sagte Orsel: »Sag nichts! Du hast deinen Tor. Ich habe jetzt auf einen Schlag meinen Großvater und meinen künftigen Mann verloren.« Sie zwirbelte geschickt einen Faden aus den Haaren des Hängehornochsen, die ihr ihre Tante von der Masse, die ihre Großmutter zusammenstrich, zureichte. Sie verwendete dazu einen Spinnrocken, der aus einem großen Tierknochen
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