Pendelverkehr: Ein Eifel-Krimi (German Edition)
Zähne waren ihr fremd. Sie konnte mit ihnen den Samen nicht
gut kauen«, wispert sie. »Gejammert hat sie und geweint. Um Gnade gefleht. Um
Hilfe. Man solle ihr die Nadeln des Baumes zerkleinern; die brauchte sie nicht
zu kauen.«
Jetzt blicke ich wieder auf. Nicht Jupp, sondern Gaby von
Krump-Kellenhusen hat bei der ihr fremden Mutter Agnes Sterbehilfe geleistet.
Ihr das Gift gereicht. Ist bei ihr gewesen, als sie ihren letzten Atemzug tat.
Hat ihr anschließend ein würdiges Aussehen verliehen. Legt jetzt eine Blume an
den Ort, wo dieses alles geschehen ist. In meinen Schrecken über diese Tat
mischt sich eine widerwillige Bewunderung. Ich kannte Mutter Agnes und wusste,
wie sehr sie das Ende herbeigesehnt hat. Aber ich hätte ihr nie dabei helfen können – ebenso wenig, wie Jupp das gekonnt hat. Ich könnte auch nicht einem
angeschossenen Reh mit einem Stein den Schädel einschlagen.
Die Mopsfledermausforscherin, die Societylady aus Berlin, die
Ehefrau, die einen Privatdetektiv auf ihren Mann ansetzt, dann sein Fremdgehen
duldet, diesem aber wegen gestohlener Stiftungsgelder durch ihr Verschwinden womöglich
eine böse Falle stellt, die einer fremden Frau im Wald beim Sterben hilft – wie
viele Gesichter hat diese Frau denn noch?
Ich mustere sie genauer. Ja, sie ähnelt ihrem wunderschönen Bild,
auch wenn ich jetzt besser erkennen kann, wie tief sie in die Farbtöpfe
gegriffen haben muss, um das zu bewerkstelligen. Was die
Natur verhunzt, ersetzt die Kunst , pflegte ein Designer zu sagen. Man
braucht kein Psychologiestudium absolviert zu haben, um zu wissen, dass sich
hinter kräftiger Schminke ein schwaches Selbstbewusstsein verbirgt. Das
wiederum passt nicht zu allem, was ich inzwischen über diese Frau weiß.
Außerdem ist etwas Bekanntes, etwas Vertrautes um sie, etwas, das ich nicht
benennen kann. Wahrscheinlich ist es die Tatsache, dass sie mir ein Geheimnis
anvertraut, mich zur Verbündeten ihrer erschreckenden Tat macht. Von mir
Anerkennung erheischen will. Mir läuft ein Schauer über den Rücken. Mutter
Agnes war nicht die Einzige, die in den vergangenen Tagen an dem Gift der Eibe
gestorben ist. So etwas Ähnliches hat Marcel doch gesagt, oder nicht?
Was ist nur mit mir los? Wie Sternschnuppen schießen mir Gedanken
und Erinnerungsfetzen durch den Kopf, die gleich danach wieder verglühen,
keinen einzigen kann ich festhalten. Meine Augen brennen, und meine Zunge
schabt wie Sandpapier an meinem Gaumen. Ich blinzele und schlucke, aber das
hilft auch nichts. Nein, den Anruf habe ich nicht geträumt, registriert mein
vernebeltes Hirn. Nur zu lange im vom Cannabis verpesteten Rauch gestanden.
Hein sei Dank.
Und zu lange darauf gewartet, dem weiblichen Phantom, das vierzehn
Jahre lang mein Berliner Leben und in den letzten Tagen mein Eifeler Dasein
mitbestimmt hat, endlich leibhaftig gegenüberzustehen. Alles andere ist dadurch
erst einmal in den Hintergrund getreten. Erstaunlich, wie lebendig die
Vergangenheit aufersteht, wenn eine einstige Hauptprotagonistin der Gegenwart
den Todesstempel aufdrückt.
»Sie hat die Nadeln geschluckt und mit dem Wasser aus ihrer
Schnabeltasche runtergespült?«, frage ich, bemüht, den Nebel in meinem Kopf zu
durchdringen und so nüchtern wie möglich zu klingen.
Gaby lacht bitter.
»Das Wasser hatte sie doch schon längst verschüttet, als ich sie
unter der Eibe fand. Sie wollte wie eine alte Germanin sterben, wie jener
Keltenherrscher, der lieber Eibensamen im Mund zermalmte, als sich Caesar zu
unterwerfen. Aber sie konnte es nicht. Selbst dafür war sie zu schwach. Ich
habe sie gestützt und ihr von meinem Wasser abgegeben. Wer auch immer ihr das
Bett im Wald gemacht hat – es war unverantwortlich, sie da sich selbst zu
überlassen und solchen Qualen auszusetzen. Was hätten Sie an meiner Stelle
getan?«
Den Arzt geholt, denke ich, sage aber nichts.
»Ich wollte losgehen und Hilfe rufen«, flüstert Gaby.
»Warum haben Sie das nicht getan?«
Die Pause ist wieder sehr lang. Schließlich stößt sie fast unhörbar
aus: »Weil ich nicht allein war.« Sie formt mit den Lippen ein Wort, das ich
nicht hören, aber lesen kann.
»Cora!«, übersetze ich es laut.
Gaby nickt.
»Ja, sie war dabei. Sie versteht alles von Kräutern und Bäumen und
begriff sofort, was die alte Frau vorhatte. Wer unter einer Eibe einschläft,
hat sie gesagt, rechnet damit, nie wieder aufzuwachen. Aber die alte Frau
konnte nicht einschlafen.«
Gaby bricht ab und starrt auf die Stelle,
Weitere Kostenlose Bücher