Pendergast 12 - Fear - Grab des Schreckens
den Toilettenartikeln zurecht, die sie in einer Drogerie gekauft hatte. Sie betrachtete sich im Spiegel. Nach zwei Wochen auf der Straße und mit ein bisschen Schminke hatte sie sich tatsächlich in eine schmutzige, obdachlose Drogenabhängige verwandelt.
Es war 18 Uhr, und in der Penn Station herrschte Hochbetrieb – genau, wie sie gehofft hatte. In den vergangenen beiden Wochen hatte sie sich nur in der Stadt bewegt, wenn sie in einer Menschenmenge untertauchen konnte. Sie blickte sich um, um zu sehen, ob jemand sie beschattete, wobei sie vor allem nach jenem Gesicht mit den grausamen Zügen und der getönten Brille Ausschau hielt. Sie war zur Obdachlosen geworden, die sich in U-Bahn-Stationen und Kirchen versteckte, auf Parkbänken und unter Autobahnbrücken schlief und Big Macs aß, die sie nach Geschäftsschluss aus dem Müllcontainer hinter McDonald’s holte. Es war ziemlich klar, dass sie zufällig auf irgendeine machtvolle Naziorganisation oder Verschwörergruppe gestoßen war. Das war die einzige Erklärung für den sicheren Unterschlupf, für all die Geräte und Dokumente – und für den verbissenen Eifer, mit dem die Männer sie verfolgt hatten. Sie wussten, dass sie die Unterlagen gestohlen hatte.
Vielleicht war sie übermäßig paranoid, aber es erschien ihr wahrscheinlich, dass diese Leute alles Erdenkliche tun würden, um sie aufzuspüren und zu töten.
Sie hätte zur Polizei gehen können. Aber das hätte bedeutet, dass sie den Grund für den Einbruch angab: eine Straftat, die ihre Laufbahn bei der Polizei beenden würde, ehe sie begonnen hatte. Und möglicherweise hätte man ihr bei der Polizei keinen Glauben geschenkt, vielleicht hatten die Nazis sich auch verdünnisiert. Wer glaubt einem denn, dass im Manhattan des 21. Jahrhunderts Nazis aus einem Wohnhaus heraus operierten?
Mehrmals hatte sie versucht, Pendergast zu erreichen, aber vergebens. Die Villa am Riverside Drive war verrammelt und verriegelt. Als sie das inzwischen vertraute Gewicht des Rucksacks auf ihrer Schulter verlagerte, rief sie sich in Erinnerung, wie wichtig es war, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Die Dokumente waren wichtig, da war sie sicher, aber weil sie kein Deutsch verstand, konnte sie es nicht genau sagen.
Mehrmals hatte sie das Mietshaus, in dem sie wohnte, observiert und keinerlei Anzeichen für verdächtige Aktivitäten entdeckt. Sie war zuversichtlich, dass die Nazis nicht herausgefunden hatten, wer sie war.
Aber es war noch nicht vorbei. Auf die eine oder andere Weise musste sie die Dokumente Pendergast zukommen lassen, ihm von dem Unterschlupf berichten. Als Nächstes würde sie das Dakota-Gebäude aufsuchen.
Sie ging zur U-Bahn-Station an der Eighth Avenue. Der Bahnhof war brechend voll, und gerade fuhr ein Zug ein. Sie hielt sich im Hintergrund, am Ende des Bahnsteigs, und wartete, bis alle Leute ausgestiegen und die neuen Fahrgäste eingestiegen waren. Dann wartete sie noch etwas länger, bis der Zug den Bahnhof verlassen hatte und die ausgestiegenen Fahrgäste gegangen waren, hinauf zur Straßenebene oder zu den Pendlerzügen nach Long Island oder New Jersey. Einige Augenblicke lang war der Bahnhof leer. Sie blickte sich ein letztes Mal um, setzte sich auf den Rand des Bahnsteigs und ließ sich vorsichtig aufs Gleisbett hinab. Und dann – während sie auf den Gleisen des schnell davonfahrenden Zuges ging – verschwand sie in der Dunkelheit des Tunnels.
3
D etective Lieutenant D’Agosta hatte es sich schon vor langer Zeit zur Gewohnheit gemacht, zu allen Terminen im Gebäude der Rechtsmedizin in der East 26th Street zu spät zu kommen. Er hatte auf die harte Tour gelernt, dass das pünktliche Erscheinen erhebliche Nachteile mit sich brachte, denn meistens erschien man, wenn die Obduktion vorgenommen wurde und man gezwungen war, Zeuge der Schlussphase zu werden, die unvermeidlich die schlimmste war. Man hatte ihm gesagt, dass er sich schon daran gewöhnen werde.
Er hatte sich nicht daran gewöhnt.
Diese Obduktion würde, das ahnte er, eine noch größere Herausforderung darstellen als die meisten. Eine junge IT-Beraterin aus Boston auf Geschäftsreise in New York war in einem Luxushotel ermordet und zerstückelt worden, die Bilder der Überwachungskameras zeigten einen Mörder, der wie ein Model aussah, und das Opfer war genauso attraktiv. Die Art und Weise des Verbrechens – das alle Merkmale eines Lustmordes aufwies – garantierte ein großes öffentliches Interesse. Selbst die Times
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