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Penelope Williamson

Penelope Williamson

Titel: Penelope Williamson Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wagnis des Herzens
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dem Einkaufsnetz einer alten Frau hervorragte; der
süße milchige Geruch einer jungen Mutter, die ihren Säugling an die Brust
legte; der unangenehme Geruch eines kleinen Kindes, das die Hose voll hatte.
    Und dann der Lärm! Glocken,
schrille Pfeifen und Signalhörner übertönten die Schreie der Wut, der Angst,
der Freude in einem babylonischen Sprachgewirr, das im offenen Gebälk der
riesigen runden Festung aus Braunstein wie Donnergetöse hallte. Und überall
waren Männer in blauen Drillichanzügen. Sie ließen die Einwanderer nicht aus
den Augen, trieben sie wie eine Herde Vieh von einer Ecke in die andere und
bedeuteten ihnen mit herrischen Gesten, Schlange zu stehen und zu warten.
    So viele Schlangen, das endlose
Warten und so viele Fragen. »Woher kommen Sie?«, »Wohin gehen Sie?«, »Haben Sie
hier Angehörige?«, »Haben Sie hier eine Arbeit?«
    Bria war
froh gewesen, weil sie auf alles die richtige Antwort hatte. Ihr Ehemann und
ihr Bruder waren bereits Amerikaner, und in einer Stadt mit dem Namen Bristol,
Rhode Island, erwartete sie ein Heim. Ihr Mann hatte dort zwei Jahre auf den
Zwiebelfeldern gearbeitet und ihr vor einem Monat einen amerikanischen Schein
geschickt, ein Stück Papier mit einem Adler darauf. Es war so gut wie bares
Geld, und sie hatte damit die Schiffsreise für sich und die beiden Mädchen
bezahlt. Nun waren sie hier – in Amerika.
    Bria war mit all den richtigen
Antworten zuversichtlich, bis sie sich in die Schlange für die medizinische
Untersuchung einreihte.
    Die Ärzte
klopften den Leuten auf die Brust und hörten ihre Lungen mit Instrumenten ab,
die kleine metallene Hörrohre und Gummischläuche hatten. Die Frauen mußten
ihre Schultertücher zurückschlagen und die Kleider aufknöpfen. Manchen Frauen
war das peinlich, und andere empfanden es als demütigend, doch die Ärzte
verlangten es, ohne Rücksicht auf die Gefühle zu nehmen.
    Die
Schlange schien unendlich lang. Die Einwanderer standen, machten ein paar
Schritte vorwärts und standen wieder. Noreen hielt Brias Hand so fest, daß der
Schmerz ihr bis ins Mark drang. Merry klammerte sich an Brias Rock. Sie summte
ununterbrochen – es war ein hohes, ängstliches Summen.
    Schließlich
waren sie nahe genug, um sehen zu können, was am Anfang der Schlange vor sich
ging. Die Ärzte untersuchten eine Familie, die, wie jemand sagte, aus Rußland
kam. Die Frauen waren in große Umschlagtücher mit Fransen eingehüllt. Ihre
Köpfe verschwanden unter Kopftüchern. Die Männer trugen mit Borten besetzte
und geschnürte Westen. Eine der Frauen hatte ein mit Kreide gezeichnetes »E«
auf der Schulter. Sie schien die besondere Aufmerksamkeit eines Arztes auf
sich gezogen zu haben.
    Plötzlich
stieß die Frau lautes Jammergeschrei aus. Sie begann zu weinen, zerrte an ihren
Kleidern und rang die Hände. Durch die Schlange ging entsetztes Flüstern in
vielen Sprachen.
    »Sie wird
abgewiesen ... Sie ist blind ... Sie ist unerwünscht ...« Brias Magen krampfte sich vor Angst so heftig zusammen,
daß sie sich beinahe übergeben hätte. Die Ärzte würden ihre Brust abklopfen und
den Sumpf finden, der sich in ihrer Lunge ausgebreitet hatte. Man würde sie als
>unerwünscht< zurückschicken. Man würde ihr die Kinder aus den Armen
reißen, und sie mußte mit dem nächsten Schiff nach Irland zurück. Sie und Shay
würden auf immer getrennt sein, und sie würde allein sterben.
    Bria wurde
schwindlig, und sie war vor Angst beinahe selbst blind, als sie schließlich an
der Reihe war. Einer der Ärzte untersuchte ihre Augen und zog dabei ihre Lider
so weit nach außen, daß es schrecklich schmerzte.
    Bria war
sicher, er würde sagen: »Abgewiesen, abgewiesen, abgewiesen ...«
    Dann griff
er nach dem Instrument, um sie abzuhören. »Knöpfen Sie Ihr Oberteil auf und Ihr
Unterkleid, ziehen Sie das Unterhemd hoch, und öffnen Sie das Korsett, wenn Sie
eins tragen«, sagte er mit der kältesten Stimme, die sie jemals gehört hatte.
Die anderen Frauen waren nicht aufgefordert worden, ihre Unterwäsche zu öffnen.
Brias Befürchtungen schienen sich zu bestätigen. Der Arzt vermutete bereits,
daß sie die Schwindsucht hatte – so wie man schnell herausgefunden hatte, daß
die alte russische Frau blind war.
    Brias Hände
zitterten so sehr, daß sie kaum mit den Schnüren und Haken zurechtkam. Doch der
Arzt benutzte nicht sein Instrument, sondern hielt die Hand an ihre Brust. Er
strich langsam mit dem Handrücken unter den runden schweren Monden ihrer

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