Perdido Street Station 02 - Der Weber
teilten, falls sie nicht von ihren Krankheiten dahingerafft oder erstochen wurden wegen ihrer pissefleckigen Schuhe. Sie waren mein Clan, zermürbt und kaputt und gebrochen, aber dennoch so etwas wie ein Clan. Ihr dumpfer Mangel an Interesse an mir – an allem – war erfrischend nach Tagen wachsamer Unauffälligkeit und ein oder zwei Stunden prahlerischen Herumstolzierens mit meiner ungeschlachten hölzernen Prothese. Ich schulde ihnen nichts, diesen schnaps- und drogenvernebelten Köpfen, aber ich werde sie besuchen, um meinet-, nicht um ihretwillen.
Mir ist, als würde ich zum letzten Mal durch diese Straßen gehen.
Werde ich sterben?
Es gibt zwei Möglichkeiten.
Ich helfe Grimnebulin und wir besiegen diese Falter, diese grausigen Nachtmahre, diese Seelensäufer, und er wird aus mir eine Batterie machen. Er wird mich belohnen, er wird mich aufladen wie eine Brennstoffzelle und ich werde fliegen. Während ich das denke, klettere ich an den Brückenträgern empor. Ich steige höher und höher auf diesen Gittersprossen, erklimme die Stadt wie eine Leiter, um auf ihre schäbige, brodelnde Nacht hinunterzuschauen. Ich fühle, wie die kraftlosen Stummel meiner Flugmuskeln sich regen, ein trauriger, kümmerlicher Reflex. Ich werde nicht getragen werden von Luft, die von Federn niedergedrückt wird, sondern ich werde meinen Verstand ausbreiten wie meine Schwingen und auf Kraftströmen dahingleiten, transformative Energie, thaumaturgischer Flux, die bindende/trennende Kraft in allem, die Grimnebulin Krisis nennt.
Ich werde ein Wunder sein.
Oder ich werde versagen und sterben. Ich werde fallen und von scharfem Metall aufgespießt werden, oder meine Träume werden aus meinem Gehirn gesaugt und an einen teuflischen Nestling verfüttert.
Werde ich es fühlen? Werde ich weiterleben in der Faltermilch? Werde ich wissen, dass ich getrunken werde?
Die Sonne kriecht über den Horizont. Ich werde müde.
Ich weiß, dass ich hätte bleiben sollen. Wenn ich wirklich sein will, mehr ab dieser stumme, vernunftlose Niemand bisher, müsste ich bleiben und mich zu Wort melden und planen und vorbereiten und zu ihren Vorschlägen nicken, sie mit meinen eigenen ergänzen. Ich bin, ich war, ein Jäger. Ich kann helfen, die Falter aufzuspüren, die grausigen Kreaturen der Nacht.
Aber ich vermochte es nicht. Ich versuchte mich zu entschuldigen, Grimnebulin – sogar Blueday – begreiflich zu machen, dass ich einer von ihnen bin, Mitglied der Gemeinschaft. Der Truppe. Der Falterjäger. Doch es tönte mir hohl in den Ohren.
Ich werde auf die Suche gehen und mich finden, dann werde ich wissen, ob ich so weit bin, ihnen das zu sagen. Und wenn nicht, was ich stattdessen sagen kann.
Ich werde mich bewaffnen. Ich werde mir ein Messer beschaffen, eine Peitsche von der Art, wie ich sie zu tragen pflegte. Auch wenn ich ein Außenseiter bleibe, werde ich sie nicht allein in den Tod gehen lassen. Ich werde unser Leben teuer verkaufen an diese durstigen Mörder.
Ich höre melancholische Musik. Es entsteht ein Augenblick unwirklicher Stille, wenn die Züge und die Kähne sich von mir in meinem Horst entfernen und das Rattern und das Tuckern verklingt und der frühe Morgen für einen Moment unverstellt hervortritt.
Irgendwo am Flussufer, in irgendeiner Dachkammer, spielt jemand auf der Fiedel. Eine melancholische Weise, eine bebende Threnodie aus Halbtönen und Kontrapunkten über einem gebrochenen Takt. Es klingt nicht nach hiesigen Tönen.
Ich erkenne die Harmonien. Ich habe sie früher schon gehört. Auf dem Schiff, das mich über das Karge Meer fuhr und davor in Shankell. Mir scheint, es gibt kein Entkommen vor meiner südlichen Vergangenheit.
Auf diese Weise begrüßen die Fischerinnen von Perrick Nigh und den Mandrake Islands weit im Süden den neuen Tag. Meine unsichtbare Akkompagnistin heißt die Sonne willkommen.
Von den wenigen Perrikish in New Crobuzon wohnen die meisten in Echomire. Doch hier ist sie, drei Meilen flussaufwärts, und weckt den großen Tagfischer mit ihrem virtuosen Spiel.
Sie spielt für mich noch ein paar Augenblicke, bevor der Lärm des Morgens die Musik verdrängt, und ich lausche an die Brücke geklammert dem Tuten der Signalhörner und dem schrillen Pfeifen der Züge.
Das Lied aus einer fernen Weltengegend tönt weiter, aber ich kann es nicht hören. Die Stimmen New Crobuzons bestürmen mein Ohr. Ich will ihnen folgen, sie willkommen heißen. Ich will mich in das brodelnde Stadtleben stürzen. Unter
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