Perlentod
hörte sogar aufmerksam zu, als die Sprache auf die alte Schmidt kam, von der Sentas Mutter in den höchsten Tönen schwärmte, weil sie eine begnadete Gitarrenspielerin sei. Wenn Senta jemand vor einem Monat prophezeit hätte, dass sie sich einmal voller Spannung Geschichten über die Bewohner von Harting anhören würde, dann hätte sie nur müde mit dem Kopf geschüttelt. Jetzt nutzte sie die Gelegenheit, um auch wegen eines Probenraums für Mo zu fragen. Ihre Mutter erklärte sich sofort bereit, im Kulturzentrum ein gutes Wort für Moritz einzulegen. Und auch wenn sie dabei diesen doofen Blick aufsetzte, den sie immer bekam, wenn sie versuchte, Senta eine Art beste Freundin zu sein, freute die sich über die gute Nachricht. Irgendwie war es ja auch rührend, wenn ihre Mutter etwas über ihr vermeintliches Liebesleben herauszubekommen versuchte.
28. Mai 1959
Heute ist etwas geschehen, was ich nicht begreife. Der Anwalt kam mit säuerlicher Miene. Sie haben im Spritzenhaus nichts gefunden! Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich begriffen habe, dass jemand die Beute aus meinem Versteck geholt und alle Spuren beseitigt haben muss. Die Polizei sagt nämlich, nichts deute darauf hin, dass sie jemals dort gewesen sei. Aber ich selbst habe die Perlenketten, Goldringe und Edelsteine in dem alten Schacht deponiert und bis vorgestern niemandem davon erzählt!? Ich kann mich so langsam des Verdachts nicht erwehren, dass W. sich die Beute geholt hat.
Senta hielt inne und las den vorletzten Satz noch einmal. Die Begriffe »Schacht« und »Spritzenhaus« hatten sie elektrisiert. Was, wenn Richart hier vom Schacht hinter dem Hartinger Spitzenhaus sprach? Sofort kam ihr die ätzende Mutprobe wieder vor Augen. Sie konnte den fauligen Gestank in dem engen Schacht förmlich riechen. Begierig las sie weiter.
29. Mai 1959
Fast die ganze Nacht wach gelegen und kaum Luft bekommen vor Husten. Der Arzt war da, sagt aber, ich würde simulieren. So muss ich in der Zelle bleiben. Ich fürchte mich neuerdings vor der Dunkelheit. Um zehn wird das Licht gelöscht – noch nie fühlte ich mich so wie jetzt. Mit meinen neunzehn Jahren bin ich ein Wrack. Ein Nichts. Und das alles für so ein paar Klunker, die ich noch nicht einmal angefasst habe. Von W. keine Nachricht und auf Anna hoffe ich auch nicht mehr.
30. Mai 1959
Im Traum bin ich geflogen. Wie ein kleiner Engel habe ich mich gefühlt. Meine Flügel waren unsichtbar, aber ich habe bei jedem Schlag den Luftzug gespürt und ihre Weichheit hat mich an den Armen berührt.
31. Mai 1959
Wenn ich meinen Arm hebe, schmerzt es mir in der Brust. Der Husten hat zwar nachgelassen, aber es fühlt sich so an, als ob er sich ganz tief in meinen Körper verkrochen hat. Ich bin so müde. Vielleicht ist es das Beste, wenn ich die Zeit verschlafe. Wenn ich wach bin, muss ich immer wieder um mein Schicksal bangen. Manchmal bin ich mir fast sicher, dass W. ein ganz falscher Hund ist und er mich von Anfang an ausgetrickst hat. Und dann wieder, wenn ich kurz davor bin, dem Anwalt die ganze Wahrheit zu sagen, bekomme ich Zweifel. Ich will nicht zum Verräter werden.
Dass Richart erst neunzehn Jahre alt war, als er das Tagebuch geschrieben hatte, bestürzte Senta. Irgendwie hatte sie ihn sich die ganze Zeit viel älter vorgestellt. Erneut zog sie sein Foto heraus und betrachtete es nachdenklich. Wieder bemerkte sie die erstaunliche Ähnlichkeit zu Riko und ihr fiel auf, wie lange sie schon keinen Gedanken mehr an ihn verschwendet hatte.
»Was liest du denn da Spannendes?«, eine Stimme ließ sie zusammenzucken. Hinter ihr in der Tür stand ihr Vater.
»Ich hab angeklopft«, sagte er entschuldigend.
»Was Geschichtliches«, wich Senta aus und steckte das Tagebuch samt Foto schnell in ihre Schultasche. Sie hatte keine Lust auf eine Diskussion mit ihrem Vater über die moralische Richtigkeit, in einem fremden Tagebuch zu schmökern.
»Du wolltest doch klettern gehen«, erinnerte er sie und Senta sprang hoch. Eilig zog sie ihre Trainingstasche aus dem Schrank und machte sich bereit.
Als sie eine knappe Stunde später in der Kletterwand hing, kamen ihr außer Riko plötzlich auch wieder München und ihre Freunde in den Sinn. Früher hatte sie sich nach dem Klettertraining oft noch mit Leni in einem Café getroffen oder war mit ihr durch die Stadt gezogen. Jetzt kam ihr das alles so fern und vergangen vor. Ein bisschen erschreckte sie dieses Gefühl der Endgültigkeit. Früher wäre es undenkbar gewesen,
Weitere Kostenlose Bücher