Perlentod
instinktiv in Richtung Tür. Der Direktor missdeutete diesen Blick als demonstrative Teilnahmslosigkeit.
»Interessiert dich das alles gar nicht?«, brüllte er sie so plötzlich an, dass Zehka seinen Kaugummi verschluckte.
»Ich«, wollte Senta sich erklären, kam aber nicht weit, sie konnte der Übelkeit nicht länger widerstehen und erbrach sich direkt vor die Füße des Direktors.
»Frau Hohlbein«, rief dieser erschrocken nach seiner Sekretärin, die sogleich herbeigeeilt kam und sich um Senta kümmerte. Sie führte die bleiche Schülerin aus dem Raum in eine der Toiletten, wo Senta gierig ihren Mund unter den Wasserhahn hing.
Rasende Kopfschmerzen bohrten sich durch Sentas Kopf. Nur mit Mühe konnte sie sich auf den Beinen halten, als Frau Hohlbein sie ins Krankenzimmer brachte. »Könnten Sie die Vorhänge zuziehen. Das Licht tut mir in den Augen weh«, bat Senta mit leiser Stimme.
»Du hast einen Migräneanfall«, stellte Frau Hohlbein fachkundig fest und strich Senta leicht über das Haar. Diese mitfühlende Geste ließ Senta die Tränen in die Augen schießen. »Das ist alles gelogen, die wollen mich total fertigmachen. Genau wie den Moritz damals«, brach es aus ihr heraus, während die Tränen über ihre Wangen liefen. Frau Hohlbein horchte auf und befahl Senta, sich nicht weiter zu sorgen und die Augen zu schließen. Sie würde jetzt bei ihrer Mutter anrufen, damit die sie von der Schule abholen konnte. Bis dahin sollte sie versuchen, sich zu entspannen. Das würde den Schmerz lindern.
Sie musste tatsächlich eingeschlafen sein, denn als ihre Mutter ihr behutsam über die Wange strich und sie beim Namen rief, wusste Senta erst gar nicht, wo sie sich befand. »Scht«, erkannte sie schließlich die vertraute Stimme ihrer Mutter. Auf ihrem Rücken trug Frau Herzog Sentas Schulrucksack. Nur langsam erhob sich Senta von der Liege. Das starke Schwindelgefühl hatte noch nicht nachgelassen und ließ den Boden unter ihren Füßen schwanken. Gestützt von ihrer Mutter verließ sie das Schulhaus. Erleichtert stellte Senta fest, dass der Unterricht noch lief. So blieb ihr wenigstens erspart, noch einmal ihren Mitschülern zu begegnen.
Im Auto wollte sie ihrer Mutter alles berichten, doch die wiegelte ihren Erklärungsversuch resolut ab: »Wir besprechen das alles, wenn es dir wieder besser geht. Zu Hause nimmst du eine meiner starken Schmerztabletten und legst dich hin.«
Senta gehorchte. Denken und Sprechen fielen ihr dermaßen schwer, dass sie ohnehin zu gar nichts anderem fähig war, als die Augen zu schließen.
20
Im Schlaf ging Senta mit der traumwandlerischen Sicherheit einer Katze über die Dächer der Stadt. Sie sprang von einem Haus zum anderen und schaute in erleuchtete Dachfenster, hinter denen überall kleine Kinder saßen und sie mit großen, angsterfüllten Augen anstarrten. Senta klopfte gegen die Scheibe, um ihnen zu sagen, dass sie sich nicht vor ihr zu fürchten bräuchten, weil sie in Wirklichkeit Senta sei, aber aus ihrem Mund kam immer nur ein böses Fauchen, das die Kinder noch mehr verschreckte. Ein Mädchen holte seinen Vater, der das Dachfenster, an dem sie gerade hockte, mit solcher Wucht aufriss, dass Senta den Halt verlor und vom Dach abrutschte. Bevor sie am Boden auftraf, wachte sie schweißgebadet auf. Draußen stand die Sonne schon ganz tief. Vorsichtig bewegte Senta ihren Kopf, der sich beim Einschlafen noch wie eine aufgeblähte Kugel angefühlt hatte, und war überrascht, wie leicht er plötzlich war. Nur irgendwo im Hinterstübchen erinnerte sie ein leiser Schmerz an die vorangegangenen Schmerzen, sonst fühlte sie sich wie neu.
»Da ist sie ja«, empfing Papa sie in der Küche. »Ich hab gehört, du hattest einen aufregenden Vormittag?« Aufmunternd lächelte er sie an.
Dann rückte er ihr einen Stuhl zurecht und Senta setzte sich zu ihren Eltern an den großen Tisch.
Die erwartungsvollen Gesichter ihrer Eltern ließen keine Zweifel zu. Sie wollten hören, was passiert war. Und Senta war dankbar, dass sie endlich erzählen konnte.
Sie ließ nichts aus. Angefangen mit ihrem unbeabsichtigten Volltreffer in Herzers Vertretungsstunde, über die Mutprobe, den Drohzettel, den toten Frosch in der Kiste, den durchtrennten Bremskabeln, bis zu der Schweinerei an der Tafel und Zehkas Bodyguard-Aktivitäten erzählte sie alles. Letztlich berichtete sie auch von dem Gegenschlag, zu dem Rebecca und sie ausgeholt hatten. Außerdem schilderte Senta, wie es damals Mo ergangen war
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