Pestmond (German Edition)
Luft bekam, die andere, in Sackleinen gewickelte, hatte er halb erhoben, als wollte er seine Worte augenblicklich in die Tat umsetzen.
»Lass ihn los!«, sagte Ali. »Auf der Stelle!«
»Es ist … gut«, brachte Hasan mühsam hervor. »Ich kann ihn … verstehen. Vielleicht würde ich an seiner Stelle nicht anders handeln. Er weiß nicht … nicht, worum es geht.«
»Dann erklär es mir!«, verlangte Abu Dun. »Solange du es noch kannst.«
»Lass ihn los!«, sagte Ali. »Ich sage es dir kein drittes Mal.«
»Weil zu viel auf dem Spiel steht«, sagte Hasan. »Ich konnte nicht zulassen, dass dein Freund oder du zu Schaden kommen.«
»Aber deine eigenen Männer schon?«
»Ich hätte auch mein eigenes Leben geopfert, ohne zu zögern«, sagte Hasan. »Ein einzelnes Menschenleben spielt keine Rolle. Nicht die geringste. Unsere Mission ist zu wichtig.«
»Dann erklär es mir!«, verlangte Abu Dun. »Jetzt!«
»Warum siehst du nicht einfach selbst hin?«, fragte Andrej. »Dann verstehst du es wahrscheinlich.«
Abu Dun lockerte seinen Griff immerhin so weit, dass Hasan freier atmen konnte, und blickte in die Richtung, in die Andrejs ausgestreckte Linke wies. Dann ließ er sein Opfer so plötzlich los, dass Hasan um ein Haar gestürzt wäre, wenn nicht Ali sofort neben seinem Herrn gewesen wäre und ihn mit einer raschen Bewegung gestützt und aus Abu Duns Reichweite gezogen hätte.
Die Caravelle war nun kaum noch weiter als einen Steinwurf entfernt, so nah, dass Andrej erkennen konnte, dass das Deck des größeren Schiffes nicht leer war, wie er bisher angenommen hatte: Dutzende von Gestalten erschienen eine nach der anderen hinter der Reling, um aus leeren Augen auf das kleinere Schiff hinabzusehen.
Was nicht hieß, dass es dort drüben noch Leben gegeben hätte.
Die meisten der Männer trugen zerrissene und blutbesudelte Uniformen, und etliche zeigten schlimme, zum Teil noch blutende Verletzungen. Graue Gesichter starrten auf sie herab, und verstümmelte Hände mit abgerissenen Fingern streckten sich gierig in ihre Richtung. Eine Düsternis schwebte unsichtbar über dem Schiff, und Andrej meinte ein lautloses Flüstern zu vernehmen, das tief in seinem Innern Antwort fand. Etwas Schlimmeres als der Tod hatte Besitz von dem Schiff ergriffen und schickte sich nun an, auch die Pestmond zu erobern.
»Wir kommen zu nahe«, sagte Hasan. Als wäre nichts gewesen, wandte er sich an Abu Dun. »Kannst du uns neben dem Schiff halten? Mit ausreichendem Abstand, damit sie nicht zu uns herüberspringen können?«
»Selbstverständlich.« Abu Dun verzog abfällig die Lippen. »Verratet ihr mir auch, warum, Sahib, oder seid Ihr der Meinung, dass es den geistigen Horizont eines dummen Mohren übersteigt?«
»Was fällt dir ein, so – ?«, begann Ali, doch da hatte Andrej Abu Dun schon wortlos bei den Schultern gepackt und ihn herumgedreht, um ihn unsanft zum Ruder zu bugsieren. Ali machte keinen Versuch, sie aufzuhalten, doch als Abu Dun an ihm vorüberging, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: »Wenn du es wagst, noch ein einziges Mal so mit meinem Herrn zu sprechen, dann töte ich dich auf der Stelle, Mohr.«
»Klärt das bitte später«, sagte Hasan, bevor Abu Dun antworten oder etwas Schlimmeres tun konnte. »Ali!«
Der Angesprochene nickte nicht nur demütig, sondern steckte auch sein Schwert ein und trat einen Schritt zurück, sodass sie das Steuer unbehelligt erreichten.
»Erinnere mich daran, dass ich den Kerl umbringe, sobald das hier vorbei ist«, grollte Abu Dun.
»Wenn wir dann noch leben.« Und Abu Dun schnell genug war. Andrej fürchtete nur, dass der Nubier sich sehr weit hinten anstellen musste – in einer langen Schlange.
Abu Dun brauchte seine Hilfe, um mit nur einer Hand das stark beschädigte Steuerrad so zu halten, dass die Pestmond – ein wenig wackelig – neben der Caravelle einschwenkte und einen halben Steinwurf entfernt auf Parallelkurs ging. Hasan – von einem grimmig dreinschauenden Ali begleitet, der die Hand nicht vom Schwert genommen hatte – gesellte sich nach einer Weile zu ihnen und sah mit starrer Miene zu der stummen Armee des Schreckens hoch, die sich hinter der Reling der Caravelle versammelt hatte. Sie wuchs noch immer. Ihre Zahl musste die Hundert längst überstiegen haben. Andrej überlief ein eisiges Frösteln, als ihm klar wurde, welch großes Glück sie in der vergangenen Nacht gehabt hatten.
Und dass Hasans Entscheidung richtig gewesen war, so
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