Peter Hogart 1 - Schwarze Dame
ein grässliches Gebilde, dem Hogart nichts abgewinnen konnte.
Jenseits des Torbogens erstreckte sich der Ghetto-Friedhof, den Hogart von seinem letzten Besuch her viel größer in Erinnerung gehabt hatte. Heute wirkte die Anlage klein und unscheinbar auf ihn. Das gesamte Areal war von Synagogen umgeben, die ebenso alt aussahen wie die Grabsteine selbst. Da der Platz nicht erweitert werden durfte, hatte man im Lauf der Jahrhunderte einfach neue Erde auf alte Gräber gehäuft. An manchen Stellen lagen sogar zwölf Schichten übereinander, wodurch es zu dieser bizarren Hügellandschaft kam, dicht bedeckt mit Tausenden Grabmalen. Im Schatten der Bäume sahen die Marmorsteine wie Bücher einer zusammengebrochenen Bibliothek aus; einige ragten gerade noch zur Hälfte heraus, andere waren fast völlig in der Erde versunken. Viele waren im Laufe der Zeit umgekippt, wie faule Stümpfe aus dem Erdreich gebrochen, wo sie Mulden hinterließen, in denen sich wildes Wurzelwerk rankte.
Hogart folgte Ivona über die von Seilen begrenzten Kieswege. Als er die teils deutschen, teils hebräischen Inschriften auf den Grabsteinen sah, fühlte er sich wie ein Eindringling in der Welt jener längst Verstorbenen. Noch dazu glaubte er, die Magie dieses Orts zu spüren, als der Wind über die Hügel fegte und das Laub wie Säulen über die Gräber tanzen ließ.
Ivona deutete zu Rabbi Löws Ruhestätte, dem größten Mausoleum in der Mitte des Friedhofs. »Dort steht Vesely mit seiner Frau«, erklärte sie. »Lassen Sie sich von Eugenie nicht abschrecken. Sie ist nicht so bissig, wie sie aussieht.«
Vesely war ein hoch gewachsener, aber gebrechlich wirkender Mann von etwa siebzigJahren im grauen Steppmantel. Auf seinem Hinterkopf saß eine flache runde Kappe. Er unterhielt sich mit der kleinen rundlichen Frau an seiner Seite. Hogart konnte nicht sagen, ob sie bissig dreinsah oder nicht, da der Damenhut mit dem schwarzen Schleier ihr Gesicht verbarg. Jedenfalls verstärkte sie mit ihrem schwarzen Mantel die melancholische Atmosphäre des Ortes.
In diesem Augenblick beugte sich Vesely zum Sockel des Mausoleums, um einen gefalteten Zettel in eine Steinritze zu schieben - Wünsche, die an den Rabbi gerichtet waren.
Hogart ahnte, es würde nicht leicht werden, diesen Mann zu einer Zusammenarbeit zu bewegen. »Ist Vesely Kommunist?«, fragte er.
Ivona packte ihn am Arm. »Sind Sie verrückt? Im Gegenteil! Wegen seines regimekritischen Verhaltens wurde er während des Prager Frühlings im August ’69 für anderthalb Jahre inhaftiert. Obwohl er zu den fünfzehn besten Schachspielern der Welt zählte, wurden Turniere, an denen er teilnahm, von sowjetischen Spielern boykottiert. Es dauerte zwanzig Jahre, bis man ihn in Tschechien rehabilitierte. Falls Sie ihn nicht beleidigen wollen, stecken Sie diese Broschüre weg, denn er hat selbst mehrere Schachbücher verfasst.«
Über einen der Kieswege näherten sie sich dem Paar. Hogart ließ den Leitfaden in der Manteltasche verschwinden.
»Er ist zweiundsiebzig«, flüsterte Ivona ihm zu, bevor sie Vesely erreichten. »Sie müssen laut sprechen … Salom, Hieronymus!«
Langsam wandte der alte Mann den Kopf. Bei Ivonas Anblick begannen seine wässrigen Augen zu leuchten. »Salom, meine Liebe«, sagte er auf Deutsch, aber mit einem jiddischen Akzent. Er richtete sich auf, umarmte sie herzlich und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Pavel hat mir erzählt, dass wir Sie heute hier treffen würden. Ist das Ihr Freund?« Vesely musterte Hogart. Auf einmal zogen sich die buschigen Augenbrauen zu einem dicken Strich zusammen.
»Hier ist nicht viel Platz - trotzdem drängen sich seit tausend Jahren die Toten eines Volkes an diesem Ort zusammen.« Vesely langte in die Manteltasche und reichte Hogart eine Kappe gleich jener, die er selbst trug. »Setzen Sie diese Kippa auf, mein Freund.«
Hogart platzierte die Mütze auf dem Hinterkopf.
Vesely lächelte zufrieden. »Gehen wir ein Stück spazieren - es dauert nicht lange.« Mit einem Kopfnicken bedeutete er seiner Frau zu warten, während er sich mit Ivona und Hogart entfernte.
Als sie an einem Grabstein mit aufgesprühten Hakenkreuzen vorbeikamen, wandte sich Vesely ab. »Wir werden niemals Ruhe finden, nicht einmal hier im Zentrum des jüdischen Ghettos.«
Hogart sah ihn verwundert an, was dem alten Mann nicht entging.
»Es erstaunt Sie, dass ich das Wort Ghetto in den Mund nehme«, stellte Vesely fest. »Ich hätte es nicht erwartet.«
»Im Venedig
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