Pfad der Schatten reiter4
dieselben Wesen, die Karigan und ihre Gefährten angegriffen hatten. Sie waren schön wie alle Eleter, und die Finsternis hatte sie nicht besudelt. Allmählich drängten sich Hunderte vor ihr, und Laurelyns Lied verklang.
Sie sprach auf Eletisch zu ihnen, aber sie gaben durch nichts zu erkennen, dass sie wach waren und sie verstanden.
Dies ist mein Volk, sagte Laurelyn zu Karigan. Alles, was von ihm noch übrig ist. Unter ihnen befinden sich Freunde, Vertraute und Helden aus anderen Zeitaltern. Maler, Dichter, Schmiede und Architekten. Bitte, hilf ihnen, Eletien zu erreichen, damit ein Teil von Argenthyne weiterlebt.
»Das werde ich«, sagte Karigan, der nun bewusst war, welch gewaltige Verantwortung sie übernahm.
Dann überquere die Brücke. Sie werden dir folgen.
Karigan wandte sich zum Gehen.
Danke , sagte Laurelyn. Und vergiss nicht, dass du dich nicht lange in Eletien aufhalten darfst, wenn du hierher zurückkehren und deinen Gefährten helfen willst. Meine Zeit geht zu Ende, und ich werde die Brücke nicht lange aufrechterhalten können .
Karigan nickte, stieg die Terrassenstufen hinunter und ging dann zwischen den Schläfern hindurch zur Brücke. Die Schläfer folgten ihr schweigend. Es war unheimlich.
Als sie die Brücke erreicht hatte, betrachtete sie sie skeptisch. Eigentlich schaute sie durch sie hindurch, denn die Mondstrahlen waren durchsichtig und sie konnte den Erdboden darunter sehen, was sie nicht gerade beruhigte. Sie schüttelte den Kopf und machte einen Schritt auf die Brücke und dann noch einen. Sie trug sie tatsächlich, genau wie Laurelyn gesagt hatte.
Etwas zuversichtlicher ging sie weiter. Die Brücke fühlte sich genauso hart unter ihren Füßen an wie Stein, aber sie war schmal, und es brachte sie immer noch aus der Fassung, dass sie durch sie hindurchsehen konnte. Sie ging schneller, und als sie den höchsten Punkt des Bogens erreicht hatte, wurde der Weg vor ihr unscharf und verschleiert. Sie holte tief Luft und zwang sich weiterzugehen.
Die Düfte des Hains, die milde Luft und die sanften Geräusche verschwanden. Blinzelnd betrat Karigan die weiße Welt. Sie hatte sie »weiße Welt« getauft, als sie sie zum ersten Mal durchquert hatte, denn sowohl der Himmel als auch der Boden waren von derselben milchweißen Farbe. Inzwischen hatte sie erfahren, dass dies der Zwischenraum war, der zwischen den Schichten der Welt lag, ein Ort des Überganges, wie Laurelyn gesagt hatte. Zweimal war sie schon über seine Ebenen geschritten, und beide Male hatten Visionen sie heimgesucht, von denen einige metaphorisch gewesen waren und andere absolut albtraumhaft. Einmal hatte sie ein Schlachtfeld nach dem Kampf gesehen; der Boden war bedeckt gewesen von den Leichen ihrer Freunde … darunter auch die des Königs.
Im Augenblick war sie in das Weiß des Himmels eingehüllt. Die weiße Welt wirkte wie ein Bleichmittel auf ihre Uniform, als würden hier keine Farben geduldet. Und was lag darunter? Sie schluckte schwer. Auf ihren früheren Reisen durch die weiße Welt hatte die Landschaft lediglich aus einer formlosen Ebene bestanden. Diesmal schritt sie über einen Abgrund hinweg, der so tief war, dass sie den Grund nicht sehen konnte. Sie hörte kein Wasser in der Tiefe rauschen und spürte weder einen Aufwind noch irgendeine Brise, sondern sah nur grundlose Tiefen, in denen die weißen Schatten zunächst Grautöne annahmen und sich weiter unten immer mehr verdunkelten.
Karigan hatte noch nie Höhenangst gehabt, aber sie beschleunigte ihre Schritte, bis sie den soliden weißen Boden der Insel unter den Füßen spürte. Die Schläfer kamen dicht hinter ihr und überquerten die Brücke in einer ordentlichen Reihe. Welches Glück sie hatten, dass sie ihre Umgebung nicht wahrnahmen!
Es war dieser Abgrund, der die Insel einfasste; sie war weder
von einem milchweißen Meer noch von einem See umgeben. Genau wie Laurelyn gesagt hatte, war sie nicht einmal so groß wie der Raum mit der Monduhr. Karigan entdeckte die Brücke auf der anderen Seite, die angeblich nach Eletien führte. Sie sah wesentlich gewöhnlicher aus und schien aus Stein und Mörtel zu bestehen.
Sie ging ungeduldig auf und ab, denn sie wollte ganz sicher sein, dass ausnahmslos alle Schläfer die Mondstrahlenbrücke überquert und die Insel erreicht hatten, bevor sie weiterging. Bei jedem Eleter und jeder Eleterin, die von der Brücke traten, fragte sie sich, ob sie wohl Dichter oder Helden gewesen waren. Was hatte sie dazu
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