Pfad des Tigers - Eine unsterbliche Liebe: Roman (German Edition)
zur Unterwelt reichen, und Blätter, die den Himmel berühren. Die Äste sollen viele Hundert Meter lang und der Baum selbst tausend Meter hoch sein … Ich nehme an, wir haben ihn gefunden.«
»Vermutlich«, erwiderte Kishan trocken.
Als wir endlich die grasbewachsene Talsenke erreicht hatten, folgten wir einem riesigen Ast bis zum Stamm. Da die Sonne das Blattwerk nicht durchdrang, war es darunter dunkel, kalt und still. Der Wind blies durch die großen Blätter, die wie steife Kleidung an einer Wäscheleine gegen die Äste klatschten. Unheimliche, sonderbare Geräusche hallten in der Finsternis wider, sodass es sich anfühlte, als würden wir durch einen verwunschenen Wald wandern.
Kishan schob sich näher und nahm meine Hand. Dankbar für seine Nähe versuchte ich, das Gefühl abzuschütteln, dass wir beobachtet wurden. Kishan hatte dasselbe Gefühl und meinte, dass uns merkwürdige Geschöpfe vom Baum aus mit ihren Blicken verfolgten. Ich musste lachen.
»Stell dir nur mal die Größe der Baumnymphen vor, die dieser Baum gebären würde.«
Eigentlich sollte es ein Witz sein, aber die Möglichkeit, dass es sich bewahrheiten könnte, ließ uns beide furchtsam nach oben schauen.
Erst Stunden später erreichten wir den Stamm. Er erstreckte sich wie eine hölzerne Wand, so weit das Auge reichte. Der unterste Ast befand sich in einer Höhe von etwa fünfzig Metern, also viel zu hoch, als dass wir ihn hätten erreichen können – zumal wir keine Kletterausrüstung bei uns hatten.
»Ich schlage vor«, sagte Kishan, »dass wir hier unser Lager aufschlagen und morgen früh den Stamm umrunden. Vielleicht finden wir einen niedrigeren Ast oder einen anderen Weg.«
»Hört sich gut an. Ich bin todmüde.«
Ich hörte lautes Flügelschlagen und bemerkte überrascht einen schwarzen Raben, der neben unserem Lager über den Waldboden hüpfte. Er krächzte und flatterte heftig mit den Flügeln, als er wieder davonflog. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass dies ein böses Omen war, entschied jedoch, Kishan meine Befürchtung nicht anzuvertrauen.
Als er mich in dieser Nacht um eine Geschichte bat, erzählte ich ihm eine aus einem Buch, das mir Mr. Kadam geliehen hatte. »Odin ist ein Gott der nordischen Mythologie. Er hat zwei Raben namens Hugin und Munin. Raben sind unverbesserliche Diebe, und diese beiden Tiere wurden von Odin hinaus in die Welt auf Beutezug geschickt.«
»Was haben sie gestohlen?«
»Nun, das ist der interessante Punkt bei der Geschichte. Hugin hat Gedanken und Munin Erinnerungen gestohlen. Odin sandte sie frühmorgens aus, und sie kehrten abends zu ihm zurück. Sie haben sich auf seine Schultern gesetzt, um ihm die Gedanken und Erinnerungen ins Ohr zu flüstern, die sie gestohlen hatten. Auf diese Weise wusste er immer, was geschehen war, und kannte die Gedanken und Absichten der anderen.«
»Das wäre praktisch während einer Schlacht«, meinte Kishan. »Dann würde man jeden Schachzug seines Gegners im Vorhinein kennen.«
»Ganz genau. Und das hat sich auch Odin zunutze gemacht. Aber eines Tages wurde Munin gefangen und Odin kurz darauf ermordet. Daraufhin haben die Menschen aufgehört, an Götter zu glauben. Die Legende um Odins Raben ist einer der Gründe, warum es ein böses Omen ist, wenn man einen Raben sieht.«
»Kells«, fragte Kishan, »hast du Angst, dass der Rabe dir deine Erinnerungen stehlen könnte?«
»Meine Erinnerungen sind im Moment mein wertvollster Besitz. Ich würde alles tun, um sie zu beschützen, aber nein, ich habe keine Angst vor dem Raben.«
»Lange Zeit hätte ich alles darum gegeben, wären meine Erinnerungen ausradiert worden. Ich habe geglaubt, um weiterleben zu können, müsste ich vergessen, was geschehen war.«
»Aber du willst doch Yesubai nicht vergessen, ebenso wenig wie ich Ren oder meine Eltern vergessen möchte. Erinnerungen können schmerzhaft sein, aber sie sind ein Teil von dem, was uns ausmacht.«
»Hm. Gute Nacht, Kelsey.«
»Gute Nacht, Kishan.«
Am nächsten Morgen, als wir unser Lager zusammenpackten, bemerkte ich, dass das Armband verschwunden war, das mir Ren geschenkt hatte. Kishan und ich suchten überall, konnten es aber nicht finden.
»Kells, die Kamera fehlt ebenfalls, genauso wie alle Honigkekse.«
»O nein! Was sonst noch?«
Erschrocken zeigte er auf meinen Hals.
»Was? Was ist los?«
»Das Amulett ist weg.«
»Wie konnte das geschehen? Wie kann es sein, dass ich im Schlaf nichts bemerkt habe, obwohl mir etwas direkt vom
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