Pfade der Sehnsucht: Roman (German Edition)
sehen?«
»Wir haben heute nur begrenzt Zeit«, sagte Nathanial streng.
»Unsinn«, murmelte Gabriella, deren Augen von einem Kunstgegenstand zum nächsten wanderten. »Wir haben reichlich Zeit.«
Lord Rathbourne lachte. »Vielleicht wäre ein anderer Tag günstiger.« Er zog einen weiteren Vitrinenkasten heraus. »Ich denke, dies hier dürfte Sie besonders interessieren.«
In der Vitrine befanden sich antike zylindrische Siegel, Dutzende, möglicherweise an die Hundert. Sie waren aus Stein oder Ton, in keiner festen Ordnung sortiert, und sahen aus, als wären sie babylonisch, assyrisch, akkadisch und ägyptisch.
»Sehen Sie hier.« Er zeigte auf einen aus Grünstein gefertigten Zylinder in der Mitte der Vitrine.
Gabriella trat näher und sah durch das Glas. Ihr stockte der Atem. Es ähnelte wirklich dem Abdruck, den sie vom Siegel ihres Bruders gesehen hatte. Trotzdem … Sie schüttelte den Kopf. »Es ist aus dem gleichen Material und sieht gleich groß aus. Aber ohne einen Abdruck von diesem mit dem meines Bruders zu vergleichen, kann ich es unmöglich sagen.«
»Ich könnte einen Abdruck arrangieren.«
»Das ist alles höchst bemerkenswert, Mylord, doch wir sollten jetzt gehen«, sagte Nathanial.
»Ich habe noch nie eine solche Sammlung außerhalb eines Museums gesehen.« Gabriella sah Lord Rathbourne an. »Es ist ein Jammer, diese wundervollen Dinge nicht mit der Welt zu teilen.«
»Ich bin ein selbstsüchtiger Mann, Miss Montini, und ich entschuldige mich nicht für meine Natur. Als wir uns auf dem Ball unterhielten, sagte ich Ihnen, dass ich meine Sammlungen geordnet haben möchte, auf dass, wenn ich einmal nicht mehr bin, gewürdigt wird, was ich zusammengetragen habe. Doch seither habe ich mir zu diesem Thema noch einige Gedanken gemacht.«
»Ach ja?«
»Mir scheint es eine Schande, sollte mein Lebenswerk aufgeteilt und in Museumsregalen verschwinden, die voll solcher Dinge sind, einzig mit einem Messingschild, das auf mich verweist. Es wäre mir sehr viel lieber, würde alles zusammenbleiben. Daher erwäge ich, meine Sammlungen an einem Ort zu belassen, in diesem Haus, wo sie nach meinem Tod ausgestellt werden.« Seine Züge nahmen etwas Verträumtes an, als sähe er die Zukunft vor sich. »Die Rathbourne-Sammlung im Rathbourne-Haus. Das klingt reizvoll, finden Sie nicht?«
Nathanial sah aus, als wäre er im Begriff, etwas Unverzeihliches zu sagen, und Gabriella warnte ihn stumm.
»Und ich werde einen Kurator brauchen. Sie, meine Liebe.«
Sie riss die Augen weit auf. »Das können Sie unmöglich ernst meinen.«
»Ich meine stets alles ernst, was ich sage.«
»Für eine solche Aufgabe ist Miss Montini nicht qualifiziert«, wandte Nathanial rasch ein.
»Oh, das ist sie durchaus«, erwiderte Lord Rathbourne, ohne den Blick von Gabriella abzuwenden. »Miss Montini hat Jahre auf das Studium der Antike, alten Kulturen, Geschichte, Sprachen …«
»Woher wissen Sie davon?«, fragte Gabriella.
»Es gehört zu meinen Prinzipien, mich kundig zu machen«, antwortete er achselzuckend. »Und diese Informationen waren nicht schwierig zu ergründen. Sie haben kein Geheimnis aus Ihren Studien gemacht. Darüber hinaus sind Sie mit den gegenwärtigen Funden, Entdeckungen und Nachforschungen vertraut. Auch wenn Ihr Name noch nicht weithin bekannt ist, haben sich Ihre Wege mit denen von Gelehrten, Sammlern, Museumsdirektoren und Archäologen gekreuzt.«
»Aber Miss Montini …«, begann Nathanial, verstummte jedoch sogleich wieder.
»Falls Sie anmerken wollten, Miss Montini wäre eine Frau, bin ich froh, dass Ihre Zurückhaltung siegte, bevor Sie auf Offensichtliches verwiesen. Ja, sie ist fürwahr eine Frau.« Lord Rathbournes Tonfall war trügerisch gelassen. »Doch wollten Sie gewiss nicht andeuten, ihr Geschlecht würde sie per se untauglich für eine derartige Position machen.«
Nathanials Miene erinnerte entfernt an eine Ratte in einer Falle. Sehr gut! »Nein, Sir«, sagte er matt. »Selbstverständlich nicht.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Mylord, aber …«
»Wir sprechen hier nicht über Freundlichkeit, Miss Montini, denn ich bin selten freundlich, wenn überhaupt. Ich halte lediglich die Idee, eine wunderschöne und brillante Dame als Kuratorin meiner Sammlung zu haben, als deren Gesicht in der Öffentlichkeit quasi, für einen Geniestreich.«
»Zugegeben«, sagte sie vorsichtig, »es ist faszinierend …«
»Erlauben Sie mir, offen zu sein«, fiel Lord Rathbourne ihr ins Wort.
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