Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman
auf dem Tisch faltete. Ich lehnte mich mit gekreuzten Armen an die Spüle und betrachtete ihn voller Verachtung, als er mir sein Gesicht mit einem freundlich interessierten Ausdruck zuwandte. Weder er noch ich hatten eine Vorstellung davon, was auf uns zukommen würde, aber ich begann, eine gewisse Befriedigung angesichts der Situation zu empfinden. Ich hatte die Herrschaft über meine eigenen Handlungen verloren, eine höhere, stärkere Kraft hatte die Kontrolle übernommen. Die Angst und die Unterwürfigkeit waren verschwunden, und geblieben war das Gefühl der Macht.
»Also?«, sagte er, nachdem ein paar Sekunden des Schweigens verstrichen waren.
»Also!«, sagte ich wie ein Echo.
»Worüber wollten Sie mit mir sprechen?«
»Wir wollten über dich und mich, über unsere Beziehung und die Konsequenzen dieser Beziehung sprechen«, antwortete ich und erkannte meine eigene Stimme nicht wieder.
»Beziehung …?«, fragte er verständnislos.
Er sah jetzt unsicher aus, und seine Fingerspitzen trommelten nervös gegeneinander.
»Erkennst du mich nicht wieder?«
Natürlich erkannte er mich nicht wieder; es ist nicht so leicht, jemanden wiederzuerkennen, den man als kleines Kind zuletzt gesehen hat. Es sei denn, dieser Jemand hat so tiefe Spuren im eigenen Bewusstsein hinterlassen, dass man nachts von ihm träumt und einen großen Teil seiner wachen Zeit damit verbringt, ihn und all das, was er getan hat, zu verfluchen. Er schüttelte den Kopf.
»Sollte ich das?«
»Ja, wir sind schließlich alte Spielkameraden aus Kindertagen«, antwortete ich ruhig, doch er strahlte und rief erleichtert:
»Na, das ist ja lustig! Wann …«, aber ich unterbrach ihn.
»Ja, du hast das ganz bestimmt sehr lustig gefunden. Du hattest viel Spaß mit mir. Erinnerst du dich, wie ihr die Indianer gespielt habt und ich den Cowboy?«
»Nein …«
Ich unterbrach ihn erneut.
»Damals im Müllkeller? Ich hockte ganz hinten in der Ecke und versteckte meinen Kopf hinter den Händen, um nicht blind zu werden, als ihr mit Pfeil und Bogen auf mich geschossen habt. Ein Pfeil blieb in meinem Bein stecken. Daran wirst du dich doch wohl erinnern, du hast ihn mir schließlich wieder aus dem Bein gezogen. So glücklich warst du, echtes Blut an deinem Pfeil zu sehen.«
»Ich weiß nicht …«, fing er an.
»Natürlich weißt du es. Wir haben doch jeden Tag gespielt. Wir haben gespielt, dass ich von der Vorschule nach Hause gehen wollte, aber nicht durfte, bevor nicht du und Ann-Kristin und Lise-Lott und wie sie alle hießen mich geschlagen oder irgendetwas von meinen Sachen kaputt gemacht oder mir irgendein Kleidungsstück weggenommen hattet. Einmal habt ihr mir die Hose weggenommen, sodass ich mitten im Winter mit nackten Beinen nach Hause laufen musste. Daran musst du dich doch erinnern, ihr hattet doch so viel Spaß dabei.«
Voller Abscheu gegenüber dem Mann, der vor mir saß, spuckte ich die Worte aus. Er blickte vollkommen verständnislos. War es möglich, dass er sich wirklich nicht erinnerte? Konnte es tatsächlich sein, dass die Ereignisse, die mein Leben entscheidend geprägt hatten, für ihn ohne jegliche Bedeutung waren? Für ihn waren es noch nicht einmal Kindheitserinnerungen. Wahrscheinlich hatte er eine solch alltägliche Episode auf dem Heimweg von der Vorschule schon am nächsten Tag vergessen. Welch ein Hohn war seine fragende Miene! In meinem Inneren brodelte der blanke Hass, aber nichts ließ ich mir anmerken. Ganz ruhig stand ich dort mit vor der Brust verschränkten Armen und setzte meinen Bericht aus der Kindheit fort.
»Aber an den Spuckwettbewerb wirst du dich doch wohl erinnern? Als ihr alle zusammen am Tor auf mich gewartet und mich dann bespuckt habt. Alle gleichzeitig. ›Auf die Plätze, fertig, los!‹, sagtest du, und ihr habt alle zusammen auf mich gespuckt, zwanzig Kinder auf ein Mal. Wer den besten Treffer im Gesicht gelandet hatte, war der Gewinner, und das warst ganz bestimmt du, denn du warst ja so tüchtig.«
»Du bist bestimmt …«
»Schau an! Jetzt dämmert es dir langsam! Erinnerst du dich, wie ihr mit mir Ertränken in der Regentonne gespielt habt? ›Wir zählen bis drei, und dann lassen wir los.‹ Und runter mit dem Kopf in die Tonne, ›eins, zwei, drei‹, und wieder hoch. Und wieder runter, ›eins, zwei, drei‹, und hoch. ›Eins, zwei, drei‹, hoch. Weißt du, welche Wirkung Scheinhinrichtungen auf Menschen haben?«
»Aber das war doch nur ein Spaß«, stotterte er. »So sind Kinder eben,
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